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Die Welt kann für
Frauen ein sehr einsamer
Platz sein. Die ledigen
Mädchen ahnen es, wenn
sie älter werden und die
Tänzer langsamer auf
ihren Tisch zukommen.
Deshalb sagte Clementine
nicht nein, als eines Tages
ein Mann um ihre
Hand anhielt, dem zwar
alle Vorzüge fehlten, die
einem Mädchen das Herz
schneller schlagen lassen,
der aber dafür ledig war
und zu einer Heirat mit
Clementine bereit. Cle-
rnentine sagte ja, die Liebe
würde mit dem Lieben
kommen, hoffte sie, man
kann auch ohne die grosse
Liebe eine glückliche Ehe
führen. Nur lass mich zuvor
, bat sie ihren Verlobten
, meine kleine Urlaubsreise
noch allein machen,
acht Tage habe ich gut,
vom vorigen Jahr, ich
nehme damit Abschied
Von meinem Mädchendasein
. Der Mann, der ihr
Jawort besass, war damit
einverstanden.
Wo man sorglos durch
die Wälder wandert und
nichtstuend in der war-
nien Sonne sitzt, werden
die Jahre nicht so genau
gezählt wie in der Stadt,
auch misst man die Schönheit
mit längerem Masse
und man kocht im Urlaub
öüt Töpfen, auf die der
Meckel nicht unbedingt
Von Jo Hanns Rösler
genau passen muss. So
geschah es auch Clementine
. Sie lernte am ersten
Abend einen Herrn kennen
und erlag ihm sogleich
. Er fuhr einen
grossen Wagen, war elegant
gekleidet, das Geld
sass ihm locker in der
Tasche und er erzählte
Clementine, dass er Arzt
sei und dass er noch nie
einer Frau wie ihr begegnet
. Clementines Herz
brannte wie eine trockene
Scheune, in die man
ein Streichholz warf. Am
nächsten Morgen, noch
vor dem Frühstück, schrieb
sie einen Brief in die
Stadt.
«Lieber Henri», schrieb
sie, «verzeih, wenn du
kannst! Als du mich fragtest
, ob ich deine Frau
werden will, sagte ich ja.
Ich wollte geheiratet werden
. Ich hoffte, ich werde
dich eines Tages liebhaben
. Jetzt weiss ich, dass
es nie der Fall sein wird.
Ich habe einen Mann kennengelernt
, dem mein
ganzes Herz gehört. Verzeih
mir und vergiss mich!
Clementine. »
Als Clementine den
Brief weggeschickt hatte
— sie gab ihn dem Jungen
ihrer Wirtsleute, der
die Zeitungen austrug, damit
er ihn in den nächsten
Postkasten werfe —
klopfte es an ihrer Tür.
Die Wirtin trat aufgeregt
herein.
« Die Polizei war heute
früh hier », berichtete sie.
« Die Polizei ? »
«Man hat den Herrn
verhaftet, mit dem Sie gestern
abend heimkamen
und der seit zwei Tagen
bei mir wohnt. Er soll Unterschlagungen
gemacht
haben. Arzt ist er auch
nicht. Den Wagen hat er
vor einer Woche gestohlen
. »
Clementine schwankte
der Boden unter den
Füssen. Der Brief! Der
Brief ! Das war ihr erster
Gedanke. Den fremden
Mann hatte sie völlig vergessen
, es war wie ein
Traum, aus dem man erwacht
ist. Ich muss den
Brief zurückhaben ! Henri
darf ihn nie bekommen !
Sie lief was sie die
Füsse trugen.
«Ist die heutige Post
schon weggegangen ? »
fragte sie am Postamt.
« Nein. »
«Ich habe einen Brief
in die Stadt geschrieben.
Darin steht ein entsetzlicher
Irrtum. Ich muss den
Brief unbedingt sofort zurückhaben
. » Sie nannte
Henris Adresse. Der Beamte
durchsuchte die
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