http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_05_1902/0052
GUSTAVE MICHEL EINE ZAUBERIN
(Münchener Glaspalast 1901 : Französische Abteilung)
DIE PFLEGE
Von Wolfgang
ir leben in einer so kunstfreudigen und
im künstlerischen Schaffen so üppigen
Zeit, dass eine kurze Betrachtung der wechselseitigen
Abhängigkeit zwischen dem Publikum
und den Künstlern nicht ungerechtfertigt sein
mag. Wir sehen einen nicht geringen Teil des
nationalen Reichtums sich jährlich in Werke
der Kunst und des Kunsthandwerks umsetzen
und fragen dann wohl nach den Wegen und
den Prinzipien, die diesen wichtigen Vorgang
bestimmen. Es handelt sich also darum, festzustellen
, wer eigentlich mit Kunst und Künstlern
zu thun hat und wem es vorbehalten ist,
die sogenannte Pflege der Kunst auszuüben;
wobei sich dann vielleicht ergeben wird, dass
wir diesen vornehmen Ausdruck nur zu oft
missbrauchen und der Kunst mit ihm Unrecht
thun.
Zunächst sei daran erinnert, dass eine sehr
verbreitete und durchaus nicht unwesentliche
DER KUNST
von (Dettingen
(Nachdruck verboten)
Art von Kunstschaffen eine Pflege überhaupt
nicht beansprucht. Die ganz naive, sozusagen
kunstlose Kunstübung, die jedermann aus Naturbedürfnis
so vor sich hin treibt, das Wanderlied
, das wir singen oder pfeifen, der Vers, in
dem wir unsere Gefühle lyrisch gestalten, die
Schnitzmuster, mit denen der Bauer sein Gerät
verziert, die Zeichnung, die uns mit ungefügen
Strichen die Erinnerung an eine schöne
Gegend wachhält, ja, in gewissem Sinne jedes
phantasievolle Kinderspiel - - alles das gehört
so sicher in den Bereich der Kunst, als es
nicht gepflegt zu werden braucht und in der
That auch nicht eigentlich gepflegt wird.
Auch die anspruchsvollere Dilettantenkunst,
die Kunst, deren Technik erlernt und deren
eindringendes Verständnis erstrebt wird, gehört
nicht zu der angeblich gepflegten Kunst.
Sie ist ein notwendiger Luxus, den wir nur
in uns selber pflegen, den wir grossziehen,
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