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-sr4^> KONRAD LANGE: WAS IST KUNST? <^S=^
Grund dieser ihrer klassischen, also längst
bewährten und allgemein anerkannten Aeusse-
rungen zu bestimmen, so tritt uns zuerst die
Thatsache entgegen, dass sie Genuss bereiten
soll. Tolstoj freilich hält dies für einen
fundamentalen Irrtum. Der Genuss oder die
Schönheit sei gar nicht das Wesentliche der
Kunst, ebensowenig wie das Wesen der
Nahrung ihr Wohlgeschmack sei. Ueber die
Schönheit will ich hier nicht streiten, da sie
erst definiert werden müsste, ehe man mit
ihr operieren könnte. Was aber den Genuss
betrifft, so ist es nun einmal eine Thatsache,
dass die Kunst einen solchen stets bereitet,
und es würde ja auch keinem Menschen einfallen
, sich freiweillig einer Thätigkeit oder
einer Wahrnehmung hinzugeben, die ihm unangenehme
Gefühle erweckte. Der Lustwert
ist also das erste und allgemeinste Charakteristikum
der Kunst.
Das zweite ist die praktische Zwecklosigkeit,
das Absehen von einem persönlichen Nutzen,
der Ausschluss des sinnlichen Begehrens.
Dieses Kennzeichen ergiebt sich daraus, dass
wir die Kochkunst, die Kunst des Parfümeurs
und ähnliche, den sogenannten „niederen"
Sinnen dienende Künste nicht zur eigentlichen
Kunst rechnen. Tolstoj spottet mit Recht
über die Aesthetiker, die den Genuss eines
Glases Milch, die Berührung einer weichen
weiblichen Hand, den Wohlgeschmack eines
PAUL TROUBETZKOY EIN INDIANER
Bratens als ästhetischen Genuss proklamieren
möchten. Er hätte vielleicht noch stärker betonen
können, dass nach unserem Sprachgebrauch
nur diejenigen Leistungen, die wir
mit den beiden oberen Sinnen wahrnehmen,
als Kunst gelten.
Durch ihren Genusswert und ihre praktische
Zwecklosigkeit nähert sich die Kunst
dem Spiel. Und bekanntlich hat ja schon
Schiller die Kunst auf den Spieltrieb zurückgeführt
. Tolstoj scheint davon nichts zu wissen
und auch unsere modernen Naturalisten stehen
diesem Gedanken fremd gegenüber, weil sie
darin eine Degradierung der Kunst erkennen.
Es scheint in der That der Würde der Kunst
zu widersprechen, dass sie ein Spiel, also etwas
Leichtes, Nebensächliches, nur der Erholung
und Ergötzung Dienendes sein soll.
Allein diese Anschauung beruht auf einem
Irrtum. Das Spiel selbst ist, wie besonders
die Forschungen von Groos über die Spiele
der Menschen und Tiere gezeigt haben, durchaus
nichts Nebensächliches oder Ueberflüs-
siges im Leben, was ja auch schon daraus
hervorgeht, dass es eine so ungeheure Verbreitung
, bei Kindern sowohl wie bei Erwachsenen
hat. Es dient vielmehr zur Einübung
und Aufrechterhaltung zahlreicher im
Kampf ums Dasein notwendiger Triebe, Eigenschaften
, Fähigkeiten u. s. w., die sich sonst
nicht entwickeln oder erhalten könnten. Genau
dazu dient auch die Kunst. Der ästhetische
Genuss hat zwar keinen unmittelbaren praktischen
Zweck, der dem Geniessenden als
solcher bewusst wäre, aber er hat einen
höheren biologischen Zweck, nämlich die Einübung
, Aufrechterhaltung, Verbreiterung und
Vertiefung der Gefühle, Anschauungen u. s. w.,
die der Mensch im Kampf ums Dasein braucht.
Genau dieselbe praktische Zwecklosigkeit wie
in der Kunst finden wir auch im Spiel, genau
derselbe Lustwert ist beiden eigen. Die Kunst
ist also thatsächlich nichts anderes als ein
Spiel, wenn auch ein besonders feines und
reich entwickeltes, ein vertieftes, potenziertes
Spiel.
Worin besteht nun aber das Wesen dieses
Spiels? Es ist eine weitverbreitete Anschauung
, dass die Kunst sich von den übrigen
Spielen und überhaupt von anderen lusterregenden
Thätigkeiten des Menschen vorzugsweise
durch ihren bedeutenden Inhalt
unterscheide. Eine gewisse Richtung der
Aesthetik hat das sogar so formuliert, dass
dieser Inhalt der eigentliche Gegenstand des
ästhetischen Genusses sei. Man bezeichnet
diese Richtung als Inhaltsästhetik. Wie stellt
sich Tolstoj zu dieser Frage?
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