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DER WIENER
Zweiundfünfzig Künstler — eine Reihe interessanter
Köpfe. Der Grundstock bildete
schon innerhalb der Künstlergenossenschaft,
aus welcher der Bund vor Jahresfrist wegen
verschiedener praktischer und Meinungsdifferenzen
ausschied, eine Gruppe von ausgeprägter
Physiognomie. Sie veranstalteten
schon damals Sonderausstellungen, die Licht
und Leben in die langweiligen Hallen brachten.
Und da die Vereinigung „Secession" unterdes
so an Umfang zugenommen hatte, dass sie
kaum für ihre Mitglieder Ausstellungsraum
genug besass, so beschlossen die Hagen-
bündler, sich durch Hinzuziehung kunstgewerblicher
Kräfte zu komplettieren und sich
mit eigenem Programm im eigenen Hause
durchzukämpfen. Es wurden die Begabtesten
unter den Absolventen der reorganisierten
Kunstgewerbeschule aufgenommen; ein Mä-
cen, der selbst auf dem Gebiet der Landschaftsmalerei
manche Probe ernsten Naturstudiums
und künstlerischen Feinsinns abgelegt
hat, bot seine Unterstützung, so dass
schon nach kurzer Frist ein Hervortreten
HAGENBUND
(Nachdruck verboten)
des Bundes auf der Jahresausstellung im
Münchener Glaspalast ermöglicht war.
Die nach München entsandte Auswahl ist
nur klein, sie umfasst bloss einen Saal (Nr. 40)
und einen kleinen Annex im Zimmer 73, aber
charakteristisch: Ein Nebeneinander von ziemlich
gleichwertigen Arbeiten in guter Gruppierung
bietet sich dem Beschauer.
Keines der Bilder ist eine exorbitante
Leistung, die einen in Aufregung versetzen,
hinreissen oder verletzen könnte; aber es
hält sich alles auf einem gewissen Niveau
des echt Künstlerischen. Es ist bezeichnend,
dass die Säule in der Mitte des Raumes, um
welche einige kleinere Blätter arrangiert sind,
durchaus nicht stört, von keiner Seite, sondern
einen angenehmen Mittelpunkt für die Orientierung
abgiebt. In dem Ausstellungsraum
der Wiener Seeession würde solch ein vertikaler
Strich den Anblick manches Bildes, vor
allem der Klimt'schen „Medizin" zerrissen
haben. Dort herrscht ein „Clou", vor dem
die Stühle bereitstehen; das Genie der
Secession, das, trotz Muthers Widerruf zu
Die Kunst für Alle XVII. 4. 15. November 1901.
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