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BENNO BECKER
VILLA AM SEE
DER IMPRESSIONISMUS UND SEIN AUSGANG
Von A. L. Plehn
(Schluss aus dem
Wie wenn nun aber das Interesse für die individuellen
Feinheiten der Linie verloren
geht, wenn sie sich so selten mehr zeigen
sollen? Wenn immer nur die Quintessenz
der Bewegung, die dominierende Richtung
gesehen und gesucht wird, und wenn die
Linie nicht mehr Gestalten erklären, sondern
Flächen einteilen und Stimmungen beschwören
soll ? Denn dahin ist es schrittweise gekommen
. Ein Aman-Jean umzieht mit seinen
delikaten, schwingenden Konturen Körper,
welche immer mehr zu Schemen werden,
die in ihren vagen Stellungen nichts als
Seele ausdrücken sollen und die sich von
einander kaum noch unterscheiden. Henri
Martin seinerseits wird nicht mehr losgelassen
von dem Gegeneinander senkrechter
und wagerechter Linien, die alle individuelle
Besonderheit menschlicher Glieder entbehren.
Und das weil Meister Puvis de Chavannes
einmal in seiner über Paris wachenden Ge-
novefa solche Linien zu schlichter Grossartigkeit
zusammenfügte. Diese Einfachheit
konnte zu glücklicher Stunde zu sprechendem
Leben der erwecken, in dessen Seele sie im
Laufe eines langen Lebensringens heranwuchs
. Auch ihm selbst hätte sie kaum
zum zweitenmale gelingen können. Zum allgemeinen
Prinzip erhoben, müsste sie aber
vorigen Hefte)
(Nachdruck verboten)
bei mehrfacher Wiederholung zum trocknen
Schema werden. Besteht die Malerei eigensinnig
auf dem Lossagen von aller reizvollen
Besonderheit, wie sie doch die Wirklichkeit
unermüdet in beständigem Wechsel dem
Blick darbietet, dann enden auch Form und
Linie in derselben einwiegenden Gefälligkeit,
in der die Farbe sich aus ähnlichen Ursachen
zu verlieren droht.
Dann geht das Bild schliesslich vollkommen
in der Dekoration auf. Selbst das Porträt
ist nicht mehr ein mit warmem Anteil nachgefühltes
Stück Leben, eingegeben von jenem
innigen Interesse, welches nach nichts fragt
als nach der individuellen Besonderheit
gerade dieses Menschen, sondern nichts als
ein Rendez-vous-Platz nobler Farben und
delikater Stellungen. Der Mensch ist nur
zufällige Erscheinung in dem Rahmen.
Dutzende könnten ebenso aussehen. Eine
einzige Laune, Miene oder Bewegung lächelt
wie aus weiter Ferne durch vielfache Schleier
zu uns herab; keine Rede von der intimen
Nähe, bis zu der ein Charakter durch den
Pinsel gebracht werden kann, so dass alle
seine Ecken und Weichheiten, seine Stärken
und Schwächen vor einem einzigen Blicke
offen daliegen. Die grosse Fülle der Natur
mischt ihre Geschöpfe aus zahllosen und
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