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-sr4^> DIE WERKE ARNOLD BÖCKLINS IN DER
seines Instrumentes das Lied der Vergänglichkeit
aller Dinge vorfiedelt. Und nicht
ungehört verklingt dieses. Es wurde schon
gesagt, dass der Maler sich in der Haltung
eines gegeben hat, der, sein eigenes Porträt
malend, von der Staffelei auf und auf sein
Spiegelbild schaut. Doch die Uebereinstim-
mung ist nur äusserlich. In Wahrheit fixieren
seine Augen keinen Gegenstand, mit parallelen
Sehachsen blicken sie ins Unbestimmte
und Unbegrenzte. Der Maler schaut nicht,
er lauscht den Klängen, die ans Jenseits
mahnen. Das ist das Geniale und das Einzige
dieses Selbstbildnisses, dass es den
Charakter des Künstlers so voll ausschöpft.
Wie sich in der robusten Männlichkeit des
Fünfundvierzigjährigen eine frische Lebensbejahung
und die Freude an der Sinnlichkeit
der Dinge ausspricht, so deutet der ins
Weite gehende Blick auf ein Schaffen, das in
der vergänglichen Erscheinung den bleibenden
Sinn zu fassen sucht.
In demselben Jahre 1872 oder im darauffolgenden
entstand die grosse „Pietä" der
Nationalgalerie (Abb. VIII. Jahrg. H. 21).
Erworben wurde sie erst 1888, aber schon
1877 hatte der erste Leiter der Nationalgalerie
, M. Jordan, dessen verständnisvolles
und ausdauerndes Eintreten für die Kunst
Böcklins leider nicht ganz den gewünschten
Erfolg fand, mit dem Meister über eine andere
Fassung des Motivs unterhandelt, die als
Unterlage für einen Staatsauftrag dienen
sollte. Der Brief, in dem Böcklin die Unmöglichkeit
auseinandersetzt, die verlangte
Skizze zu liefern, ist für das Rationalistische
dieses „Dichters" so bezeichnend, dass er
wohl verdient, hier wiedergegeben zu werden
(s. d. beigeh. Faksimile).
Ohne Frage ist die darin sich aussprechende
Selbstkritik sehr begründet. Dem Bilde fehlt
die starke einheitliche Wirkung, die sonst von
Böcklins Schöpfungen ausgeht. Inhalt und
malerischer Ausdruck decken sich nicht. Was
uns an der Darstellung gegenständlich interessiert
, ist die menschliche Tragödie, die sie
enthält. Von ihr werden wir erschüttert. Das
Mitleid der Kinder, so rührend es geschildert
ist, der Trost, den der Engel spendet, setzen
sich für uns in keine unmittelbare Empfindung
um. Die Tiefe unseres Mitleids wird dadurch
nicht gemildert und wir zweifeln sehr, ob das
Leiden dieser gebrochenen Mutter gelindert
wird, die überdies die himmlische Erscheinung
gar nicht sieht. Diese Himmelserscheinung
aber, die gegenständlich für uns nur in zweiter
Linie steht, dominiert malerisch durchaus.
Die schimmernde Helligkeit der Wolken, der
leuchtende rote Mantel des Engels lassen die
Dämmerung, die unten herrscht, noch dunkler
erscheinen. Von den beiden Skizzenblättern,
die zu dem Bilde existieren, zeigt das (a. S. 203
gegebene) ausgeführtere die Komposition
schon wesentlich in der endgültigen Fassung.
Nur fällt auf, dass sie in der Lichtführung
abweichen. Es scheint, als hätte Böcklin ursprünglich
die Absicht gehabt, den himmlischen
Glanz sich auch über die Gruppe unten
ergiessen zu lassen. Bei der Durchführung
mögen sich Bedenken malerischer Natur ergeben
haben, deren Beseitigung dann auf
Kosten der inhaltlichen Klarheit ging. Das
Bild, das Böcklin wohl nie recht befriedigt
hat, blieb lange auf der Staffelei. Einmal soll
er den Engel durch Beigabe des Lilienstengels
ausdrücklich als Gabriel charakterisiert gehabt
haben, der, wie er die Geburt des Heilands
verkündet hatte, nun auch bei dessen Tod als
Tröster erscheint.
Denn auch rein malerisch gehört unser Gemälde
nicht zu Böcklins glücklichsten Leistungen
. Zu sichtbar fällt es in zwei Teile auseinander
, die, wie sie sich nach ihrem Inhalt
nicht verschmelzen, auch koloristisch sich
fremd, fast feindlich gegenüber stehen. Man
begreift, dass der Meister die Lösung nur in
der Beschränkung auf die untere Gruppe sah.
Diese allerdings enthält grosse Schönheiten.
Hier ist alles kühn und herb und ganz entfernt
von der weichlichen Stimmung der oberen Region
. Es ist kühn, wie hier die herbe Ruhe des
Todes durch die starren Horizontalen des Marmorsockels
und des steif hingestreckten Leichnams
wiedergegeben ist, über den sich der
lebendige Körper in hilflosem Schmerz zu-
sammenkrampft. Kühn ist auch, wie auf die
physiognomische Sprache ganz verzichtet wird.
Um so eindringlicher sprechen die wunderbar
ausdrucksvolle Rückenlinie der Mutter und
ihre Hände, von denen die eine in den Locken
des Sohnes wühlt und die andere sich verzweiflungsvoll
in seinen Arm krallt, als hofften
sie noch einen Rest von Lebenswärme zu
finden. Ein kühler blauer Dämmerton liegt
über der Scene. Neben dem tiefen Blau des
Mantels der Maria und dem Dunkel der Landschaft
, in der man mit Mühe flache, von einem
Fluss durchschnittene Erdwellen erkennt,
schimmern magisch der weisse Marmor mit
den über die Stufen gestreuten Rosen und
die fahle Leichenfarbe.
Wohl zum erstenmal in der „Pietä" künden
sich die Stileigentümlichkeiten an, die für die
nächsten zwölf Jahre etwa Böcklins Schaffen
seinen besonderen Charakter geben und an
die vor allem gedacht wird, wenn von der
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