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Strebens; die Empörung gegen Schicksalsmächte
, der Zornestaumel revoltierender Geschlechter
, und unendlicher Gram — unendliches
Mitleiden spricht aus den wuchtig
markigen Zügen — atmet in dem kampfesstarken
Leib. Klinger hat die Marter des
Erkennens, welches dem Genie stets zu eigen
ist, wunderbar synthetisiert. Und wenn er
auch die Züge Beethovens in eine dem Porträt
ganz nachgehende Weise gestaltete, so
gelang es ihm doch durch die Eliminierung
jeder Zufälligkeit, durch die breite Behandlung
der Oberfläche, aus der Formung eines
grossen Menschen, den Typus des Genies
herauszukrystallisieren.
Dieser starke Stimmungsgehalt, welcher der
Gestalt entströmt, wird noch erhöht durch
ein mit dramatischer Kraft geformtes Symbol.
Der Adler, der zu Füssen Beethovens kauert
und mit einem kühnen Ruck des Halses den
scharf blickenden Kopf hinanreckt, fragend,
bewundernd, willfährig diesem Grössten nachzufliegen
zu höchstem Flug, ist ein Bild,
dessen vergleichende Wertung Klinger nicht
nur die Möglichkeit einer Steigerung der
seelischen Erhabenheit giebt, sondern auch
seinen innersten Gedankengang klar allen das
Werk Schauenden offenbart.
Und diese gedanklichen Beziehungen spinnen
sich fort, beleben die äussere Konstruktion
des Monumentes. Wie Pausanias einstens
den Thronsessel schilderte, welchen Phidias
seinem Zeus gab, dieses Wunderwerk geistreicher
Ornamentierung, ebenso hat das Kunstvermögen
Klingers den Bronzestuhl, auf welchem
Beethoven ruht, zu einem Kleinod
Cellinesker Kunst gebildet, indem er ihn
wundersam verzierte mit im verlorenen Wachs
gegossenen Reliefs. Heidentum und Christentum
erscheinen in den Gestalten der Venus,
Adam und Evas und des Erlösers. Die Schönheit
flieht bei dem Herannahen der Religion
des Leidens. Wie „Christus im Olymp" den
Aneinanderprall zweier Welten zeigt, so ist auch
hier das Spiel der Form in den Reliefs dem
Nebeneinander zweier Kulturwelten gewidmet.
Weder die eine noch die andere Anschauung
vertritt der Künstler subjektiv. Er legt das
ungeheure Material der Menschheitsentwicklung
seinem Helden zu Füssen. Als Gipfelpunkt
der Aufhäufung aller Evolutionsphasen,
welche das Schönheitsdrängen der Menschheit
im Laufe der Jahrhunderte gewonnen, formt
er einen Giganten der Erkenntnis, formt er
den Gestalter höchster Harmonien.
Die Kunst des Bildhauers steht mit dem
Geiste seiner philosophisch-poetischen Konzeption
auf gleicher Höhe. Tiefstes Eindringen
in Naturformen und vollendete Abklärung
desselben durch vergeistigte Betonung
des grossen Zusammenhanges aller
Lebensgestaltungen schaffen allein ein Kunst-
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