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-s-s^> DAS GEISTREICHE IM KUNSTWERK
Blick erkennt, und aus den großen allgemeinen
Zusammenhängen heraus neue befruchtende
Keime zu entwickeln vermag? Ueber die
Antwort dürfte wohl kein Zweifel bestehen,
denn wir wissen sehr wohl zwischen dem
geistreichen Menschen und dem geistreichen
Gelehrten zu scheiden; und in ganz gleicher
Weise ist eben nicht der ein geistreicher
Künstler, der ein paar gute Einfälle hat oder
geschickt mit Pinsel oder Meißel zu erzählen
weiß, sondern derjenige, der in der künstlerischen
Bewältigung seiner Aufgaben Geist
zeigt, der in seiner Art ebenfalls das Wirken
und Walten der Naturkraft durchdringt, und
selbstschöpferisch Neues daraus zu gestalten
im stände ist. Es ist eine bedauerliche Tatsache
, daß dieser einfache Unterschied zwischen
sachlich oder stofflich Geistreichem
und künstlerisch Geistreichem trotz aller Bemühungen
noch immer nicht Gemeingut aller
kunstliebenden „Gebildeten" geworden ist,
und noch immer vermögen viele nicht einzusehen
, daß man sehr geistreiche Gedanken
künstlerisch höchst geistlos darstellen kann,
während umgekehrt oft etwas inhaltlich scheinbar
ganz Indifferentes zum geistreichen Kunstwerk
in des Wortes tiefster Bedeutung gestaltet
wird. Wer aber versteht denn heutzutage
ein Werk dieser letzteren Art, das
lediglich in künstlerischer Hinsicht geistreich
ist? Es wird ohne weiteres für nichtssagend
oder langweilig erklärt, wenn es keinen offen
zutage tretenden Gedanken ausdrückt, keinen
„geistigen Gehalt" im landläufigen Sinne besitzt
. Ich erinnere etwa an Adolf Hildebrands
herrlichen „Jugendlichen Mann" in der Berliner
Nationalgalerie, an dem die meisten Besucher
gänzlich verständnislos vorübergehen,
und dem selbst ein Mann wie Cornelius Gur-
litt den Namen „Allein" geben wollte, weil auch
ihm der künstlerische Begriff der ruhig dastehenden
, typisch durchgebildeten Jünglingsgestalt
an und für sich noch nicht genügte,
um die Existenzberechtigung des Werkes zu
erweisen. Und in erhöhtem Maße noch geht
die große Menge des Publikums von solch
schiefen Gesichtspunkten aus. Man vermißt
und sucht zumeist das Stoffliche, die sogenannte
geistreiche Idee, oder auch nur die
virtuose Technik, und das eigentlich Geistreiche
im Kunstwerk sieht man gewöhnlich
nicht, weil es sich nicht aufdrängt, und weil
es eben das Allergeistreichste ist, wenn man
die Arbeit nicht merkt, so daß das fertige Werk
schließlich doch wie selbstverständlich wirkt.
Das sieht dann so leicht und einfach, ja so
unscheinbar aus, und wird vom Laien gering
geschätzt; und doch, welche unendliche Mühe
und Rechnung steckt oft dahinter, bis die
rechte Lösung gefunden ist. Sehr lehrreich
sind in dieser Beziehung die häufigen Wiederholungen
des gleichen Themas, mit nur geringer
Variation, gerade bei den bedeutendsten
Künstlern. Sie können sich oft gar nicht
genug tun, um dem, was ihnen eigentlich vorschwebte
, immer und immer noch näher zu
kommen; man denke etwa an Raffaels Madonnen
oder an Böcklin, bei dem jede Wiederholung
in so frappanter Weise jedesmal einen
bewußten Fortschritt bedeutete. Das liebe
Publikum aber nennt dergleichen gar oft nur
Beschränktheit des Stoffgebietes, Einseitigkeit
u. s. w., während es im künstlerischen Sinne
vielfach die geistreichsten Künstler sind, die
sich diese freiwillige Beschränkung auferlegen.
Einseitig und geistlos sind vielmehr umgekehrt
sehr oft die Anekdotenmaler zu nennen, die
mit einem Klosterkeller und zwei Mönchen
oder mit einem Rokokointerieur oder einem
Chiemseekahn nebst etwas verschiedener
Staffage ihr ganzes Repertoire bestreiten und
doch durch wechselnde inhaltliche Pointen
stets ein neues „fesselndes" Bild erzielen.
Künstlerisch ist es dabei freilich ganz gleichgültig
, ob der schmunzelnde Mönch mit dem
vollen Glase etwas weiter links oder rechts
sitzt, wenn das Bild nur „Der Bruder Kellermeister
" oder „Ein guter Tropfen" heißt, und
der Maler verdient im besten Falle ein geistreicher
Mensch, nicht aber ein geistreicher
Künstler genannt zu werden. Ja, man kann
sogar noch weiter gehen und behaupten, daß
das Attribut geistreich nach dem strengeren
Wortsinne überhaupt gar kein Lob für ein
Kunstwerk bedeutet, sondern etwas zufällig
Hinzugekommenes, äußerlich mit ihm Verbundenes
, ja daß darin geradezu ein Tadel
liegen kann, insofern es leicht einen Nebensinn
in der Richtung auf das Witzige, Pointierte
, selbst Gewagte erhalten kann. Treffender
wäre für das, was hier besprochen werden
soll, das Wort geistvoll anzuwenden; doch
kann der allgemein gebräuchliche Ausdruck,
um dessen Klärung es sich eben handeln
wird, einstweilen beibehalten werden, wenn
wir nur von vornherein feststellen, daß damit
nicht nur der stoffliche oder inhaltliche
Gedanke, sondern der gesamte geistige Gehalt
des Kunstwerkes gemeint ist. Ueber die
oft genug schon behandelte Frage hinaus, ob
das „Was" oder das „Wie" beim Künstler das
vorherrschende Element sein solle, müssen
wir dabei versuchen, dem innersten Wesen
des Kunstschaffens nahe zu kommen.
Wollen wir nun also feststellen, worin das
Geistreiche in einem Kunstwerk besteht, so
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