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ALFRED KUBIN
Phantasie ist in den bildenden Künsten
unserer Tage nachgerade kein Seltenes
mehr geworden; auf den großen Schaustellungen
der verflossenen Jahre durfte man
mit frohem Sinne Anzeichen einer höheren,
freieren, beschwingten Kunstbetätigung begrüßen
, die auf die Epoche eines im Innersten
blinden Anstarrens der Wirklichkeit folgen
sollte. Dem Künstler, dessen Name an der
Spitze dieser Zeilen steht, ist kein Platz in
diesem neuen Abschnitt unserer Kunstentwicklung
anzuweisen, und es soll gleich begründet
werden, weshalb er außerhalb einer
bestimmten Epoche, eines abgrenzbaren Zeitabschnittes
, der Notwendigkeit allgemeiner
Evolution zu stellen sei. Betrachte man die
Abbildungen, die diesen Zeilen beigegeben
sind.*) Sie vermögen dasWesen ihres Schöpfers,
dessen Werk auch rein numerisch ans Phänomenale
streift, gewiß nur unvollkommen zu
umgrenzen, und doch sticht aus ihnen ein
tiefgründiger Wesenszug hervor, für den man
[keine Analogie in den Anschauungen einer
bestimmten Zeit, auch nicht das Symptom
einer Reaktion gegen diese Anschauungen,
keine Sehnsucht, keine Resignation, keine
Anklage, keine Anbetung finden
wird. Es ist das von Ewigkeit zu
Ewigkeit feststehende Grausen,
das die Urvölker angetrieben hat,
ihre schreckhaften, an Menschen-
und Tiergebilde nur entfernt gemahnenden
Götzen roh zu formen
, das religiöse Grausen, das
die erbarmungslose Stupidität der
unfaßbaren Gewalten, des Werdens
, des Schicksals, der Not, des
Verschwindens von jeher dem zum
Erliegen bestimmten Menschengeschlecht
eingeimpft hat. Hier ist
ein Leidender in die Tiefen seines
gut durchpflügten Wesens hinabgestiegen
und hat mit der Naivetät
des zum Empfinden Verdammten
die Form der Pein zu ergründen
gesucht, an der er vergeht. Solches
Märtyrertum verführt selbstredend
dazu, alle Lasten, die der eigene
Leib nicht kennt, auf sich zu nehmen
von tausend fremden Schultern
, und eine derartige Intelligenz
des Leidens hat in der Natur des Künstlers
Gestalt gewonnen, daß er, ohne die Behelfe,
Werkzeuge, Embleme der Zerstörung zu
benötigen, aus seinem Innern die überzeugende
Form für jegliche Bedrängnis der
wehrlosen Kreatur zu schöpfen versteht. Es
ist eine düstere Kraft, stets aufs äußerste
angespannt, ohne ein zur Ruhe Kommen,
Aufatmen, Vergessen, wenn auch nur für
einen Augenblick, eine intensive Natur, deren
eingeborener Humor an Grauen ihren Ernst
überbietet. Von einer hohen Einseitigkeit,
welche das Ausdrucksvermögen des Künstlers
zu einer konkreten Gewalt, einer ruhigen
Plastizität gesteigert hat, für die es schwer
fallen dürfte, unter den Berufenen seiner
Generation ein Gegenstück zu finden. Müßig
wär's demnach, von Möglichkeiten einer Entwicklung
zu sprechen, wo solche Reife und
Gesammeltheit das Werk eines Fünfundzwanzigjährigen
kennzeichnen. Und doch kann
man nicht ohne Wunsch und Rührung an die
Zukunft des Künstlers denken, die ihm vielleicht
die Stimme entgegensenden wird: „Du
weinest - - sieh! es lacht die Aue!"
Arthur Holitscher
*) Erwähnt sei bei diesem Anlaß, daß jüngst
eine Mappe mit fünfzehn Faksimiledrucken nach
Zeichnungen Alfred Kubins im Verlage von Hans
von Weber in München, Schellingstraße 37 (Preis
20 M., Luxus-Ausgabe 35 M.) erschienen ist.
ALFRED kubin
DIE SYMPHONIE
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