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-*-4sö> DIE BEWEGUNG ZUR BILDUNG
zur Selbsthilfe greifen, wenn ihnen von den
Fachkreisen ihre Wünsche versagt werden,
ist unrichtig. Als Beweis dafür möge man
die Tatsache nehmen, daß es kaum noch ein
Geschäftshaus gibt, das es nicht für geraten
hielte, sich mit der Reform unserer Kleidung
in irgend einer Art zu beschäftigen. Wer
die Bewegung des Genaueren verfolgt hat,
weiß, daß dies bereits ihr zweites Stadium
ist. Allerdings begann sie, wie fast alle Reformen
beginnen, damit, daß sich Laien eines
Fachproblems annahmen. Wenn nun heute
die Fachkreise, teils freiwillig, teils gezwungen,
beginnen, ihre technische Erfahrung
und ihre Betriebskräfte
in den Dienst unserer Sache zu
stellen, so könnten wir uns ja
nur darüber freuen. Für sie liegt
ja natürlich der Schwerpunkt der
Frage auf einem anderen Gebiet.
Mögen sie selbst persönlich Stellung
nehmen für oder wider, —
als Kaufleute sind sie gezwungen,
mit der Nachfrage zu rechnen.
Wer sich hundert Kostüme auf
Vorrat stellt für Leute, die er
noch gar nicht kennt, fragt natürlich
weniger nach dem Seelenheil
seiner Käuferinnen als danach
, daß ihm seine Ware nicht
liegen bleibt. Wer freilich die
Strömungen seiner Zeit versteht
und deshalb nicht anschafft, was
gestern verlangt worden ist, sondern
was morgen verlangt werden
wird, der sollte verstehen, daß
er bei uns nicht vor einer vorübergehenden
Modeerscheinung
steht. Wir bilden heute ein umfangreiches
Heer, dasentschlossen
ist, nicht vom Platze zu weichen.
Die Reihen der unsrigen sind
nicht wetterwendische Ueber-
läufer. Wer einmal zu uns gehört
, dem widerstrebt nach kurzer
Zeit die alte Zwangsjacke körperlich
und geistig zu sehr, als daß
er je zu ihr zurückkehren könnte.
Auch mit dem Drohen der unantastbaren
Macht der Mode ist
uns nicht bange zu machen. Denn
man verwechselt hier zwei von
Grund aus verschiedene Dinge.
Die grundlegende Idee von der
Schönheit des Körpers schafft
der Zeitgeist, nicht die Mode. Die
Mode liefert uns nur die Mittel,
diese Schönheitsidee zum Ausdruck
zu bringen. Diese Rolle wird sie
immer spielen, und niemand wird sie daraus
verdrängen wollen. Nur lasse man von dem
törichten Glauben, als sei die Mode ein Verhängnis
des Schicksals, das unabhängig von
unserem Willen von einem hohen Wolkensitz
herab unser Los bestimmte. Im Grunde ist
die Mode ja doch weiter nichts als die
Sklavin der Wortführer des allgemeinen
Kulturwillens, von dem wir heute hoffen,
daß er uns wieder nach langem Abwärtstreiben
nach oben führt. Dann wird die
Mode nicht als Feindin zu fürchten sein,
MARGARETE VON BRAUCHITSCH, MÜNCHEN
STRASZENKLEID MIT JÄCKCHEN ««««««
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