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zeitlich fern liegenden Stilepochen sich wieder
heimgefunden hätte zu den Quellen der Kraft,
zur Heimat, darin die Wurzel eines jeden
echten, volkstümlichen und gesunden Schaffens
liegen. Und die kargen Reste, welche nach
einer fast fünfzigjährigen Verheerung übriggeblieben
sind als Wahrzeichen einer nun
beinahe ausgerotteten Volkskunst, gewinnen
in unseren Augen die Heiligkeit von Reliquien,
an denen noch Offenbarungen zu erleben sind.
Und die Blicke, die bisher teilnahmslos an
diesen Dingen vorübergegangen sind, haften
an ihnen mit immer größerer Eindringlichkeit
und Liebe, studieren jede Einzelheit, die einst
ganz belanglos schien, und vermeinen mit
gutem Recht zu erkennen, daß hier die
wahre architektonische Vergangenheit
unseres Volkes zu suchen ist. Die offizielle
Architektur hat gerade für unsere großen,
führenden Künstler aufgehört, bedeutsam zu
sein. Sie haben längst angefangen, die
lebendige volkstümliche Baukunst zu suchen
und an die bodenständige Tradition anzuknüpfen
. Fünfzig Jahre Stilepoche und Stilwirrwarr
sind mit einem Mal ausgeschaltet,
aus der Entwicklung ausgeschieden wie ein
Fremdkörper, und das künstlerische Erbe
wird wieder aufgenommen, das uns die Großväter
hinterließen. Natürlich kommen wir
nicht arm, sondern vermehren das Pfund mit
der nicht geringen Summe an neuen technischen
Errungenschaften und Lebensanforderungen
, welche Biedermeier nicht kannte.
So entsteht Neues, das den Stempel unserer
Zeit trägt und gleichzeitig die ererbten Züge
einer alten, durchaus bodenständigen Rasse.
Von den Motiven aus alter Kultur bis zu
den Villen des Münchener Architekten Gabriel
von Seidl, die wir in diesem Zusammenhange
bringen, führt eine gerade Entwicklungslinie
. Man sehe auf die Gesamterscheinung
des Hauses, auf Raumgliederung, auf die
Disposition der Fenster und Türen, auf die
Bedachung und die Schornsteinlösung, und
man wird sich durchaus heimatlich berührt
fühlen. Man wird die Empfindung haben,
daß die so lange vertriebenen Hausgötter der
Gastlichkeit und Behaglichkeit, die in den
alten verwahrlosten Biedermeier-Wohnstätten
im Exil lebten, ein neues Dach gefunden haben,
und man wird sich sagen, daß es da durchaus
gut und glücklich zu hausen sein muß.
ALT-WIENER GARTENHÄUSER BEI HEILIGENSTADT
Für die Redaktion verantwortlich: H. BRUCKMANN, München.
Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G. München, Nymphenburgerstr. 86. — Druck von Alphons Bruckmann, München.
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