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ZUERST DER HOF UND DANN DAS HAUS
Von Richard von Schneider, Florenz
(Fortsetzung)
Aber nicht nur der „glatte Verlauf" ist ein
empfindlicher Mangel unserer Verkehrswege
, sondern das ganze Verbauungssystem,
welches weder eine vernünftig gesunde Lebensweise
berücksichtigt, noch ein Atom eines
Schönheitsbegriffes umschließt.
Die neuesten Verordnungen teilen die Städte
in Bauzonen ein, um auf weiten, unverkauften
Gebieten strengere und gesündere Maßregeln
anzuordnen als im dichtverbauten Weichbild,
wo solche meist undurchführbar auf ein
Mindestmaß beschränkt werden, um auch dort
bei Neu- und Umbauten, immerhin kleine
Verbesserungen zu ermöglichen, ohne allzusehr
das angelegte Kapital zu schwächen. Im
Weichbild der Stadt, der innersten ersten
Zone, sind sechs bis sieben Stockwerke zugelassen
. Die alte, hohe Kapitalsanlage verlangt
ein größeres Zinserträgnis, daher eine
vermehrte Grundausnützung. Hier beherrscht
der Typus des Geschäftshauses mit seinem
Eisen- und Pilastergerüste und den großen,
glänzenden Spiegelscheiben das Architekturbild
. In einer anderen Zone sind nur zwei
und drei Stockwerke erlaubt, um die bisherige
freundliche Bauart zu sichern. Hier ist das
Reihenhaus mit Vorgärten vorgeschrieben, in
brunnenmaske aus dem festsaal lingner
nach der zeichnung von wilhelm kreis
in majolika modelliert von s. werner «
immer gleichen Abständen von 80 bis 150
Metern, durch Straßenkreuzungen unterbrochen
. Diese trostlose gerade Straße verliert
sich in ein rauchgeschwängertes Nirwana
, etwa in einen Vorort, wo Fabrikanlagen
, die in einem anderen Nachbarbezirk
verboten oder bedeutend erschwert sind, der
herrschenden Windrichtung entsprechend gestattet
werden. Diese weite, mit Baumreihen
bepflanzte Straße führt in äußere Bezirke, wo
außer den Straßenzügen noch der sechs bis
sieben Meter große Gartenabstand, „der Bauwich
", zwischen den Wohnhäusern verlangt
wird, die offene Bauweise, in der Architektensprache
„der Villenfriedhof" genannt.
Ueberall die gleich großen Fensterreihen,
die gleichartigen Baublöcke, die genau zugeschnittenen
, gleich abgezirkelten Rechtecke,
die den modernen Menschen bis zum Zentralfriedhof
, ja bis ins Grab hinein grausam
verfolgen.
Theoretisch kein Verkehrshindernis. Alle
hygienischen Forderungen sind erfüllt. Licht,
Luft — mehr als gesund —, nur etwas fehlt,
dessen Mangel das Gemüt belastet, ja schwache
Naturen, trotz aller Gesundheitslehre, zur Verzweiflung
treibt, — die Schönheit!
Selbst vor dem Eingriff in unsere Vermögensrechte
schreckt man mit der Einführung
eines Enteignungsgesetzes nicht zurück,
um mit unerbittlicher Strenge ein krankhaft
einseitiges Verbauungsschema mit seinen
äußersten Schlußforderungen durchführen zu
können. Nur vor dem Hof streicht die Theorie
die Segel, sie verhüllt weise ihr Haupt, es
beginnt die Sophistik.
Die Hofanlagen sind aber der Angelpunkt,
aus dem dieses ganze, krankhaft wurmstichige
System herausgehoben und zu Fall gebracht
werden muß.
Vom inneren Hof aus muß das Miethaus
der Zukunft neu erstehen und damit eine
schönere, das heißt zweckmäßigere Stadtanlage
, ja eine neue, besserer Kontinentalen
würdige Kultur. Zuerst muß man eine
gesunde, luftige Hofanlage schaffen,
daraus die Neugestaltung des Grundrisses
und den Wohntypus einer
besseren Zukunft formen.
Die völlig schmucklosen, lehmübertünchten
Mauern des griechischen und römischen
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