Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 10. Band.1904
Seite: 66
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_10_1904/0078
-s?^> ZUERST DER HOF UND DANN DAS HAUS <^=s-

Von dieser verbohrten Monotonie unserer
Fensterreihen kann sich der Dutzendarchitekt
nicht mehr lossagen, er versetzt ein vermauertes
oder gar gern altes Schein fenster lieber,
als daß er diese trostlose Reihe einmal unterbräche
. Der sonst so knausernde Bauherr verschwendet
, jenem falschenSymmetriegefühl folgend
, denselben teuren Fensterstock des Empfangsaales
, trotz praktischer Nachteile, auch für
ein sonst verborgen gehaltenes Gemach. Bei
derartigen ästhetischen Bedenken schont das
Bauamt keine Geldinteressen, und der Bildungsphilister
findet das selbstverständlich.
Oh! diese fünf- bis sechsfachen Fensterreihen
übereinander erwürgten jeden Sinn für monumental
große Mauerflächen. Unser Bauhandwerker
zerstört sich gewiß jede ruhig vornehme
Flächenwirkung, wenn der Zufall sie
ihm aufzwingt, durch eine abgedroschene, inhaltlose
Formenwelt von Pilastern, Säulen
und Lisenen.

Zuerst also die Ketten durchhauen, ehe wir
erhoffen können, „die Architektur der Kunst
wieder zurück zu geben", wie einer ihrer
vielversprechendsten Jünger beim Schinkelfest
1900 seinen Genossen zurief. Sobald
wir unsere Bauordnungen, die Thesen und
Beschlüsse der Kongresse genauer besehen,
dann müssen wir erstaunen, welche unzer-
drückbare, gesund gestaltende Kraft sich in
der Baukunst doch noch entwickeln konnte,
und vieler hervorragender Namen — ob junge,
ob ältere Kräfte — bewundernd gedenken,
die dieser Fesselung siegreich widerstanden,
oft trotz Verirrungen herrschender Kunstanschauungen
. Keine Kunst wurde durch
Polizeivormundschaft so arg bedrängt, wie
„die Umschließerin aller Künste", die Architektur
.

* #

»t.

Es ist Advent.

In den Zeiten schwerer Bedrängnis schaut
die Menschheit nach einem Erlöser aus. Auch
heute ertönt der gleiche Ruf. Die arg bedrängte
Kunst lechzt nach Erlösung, nach
einem neuen Stil. In tausend Variationen
wird er verkündet, überall wird er gepredigt.
Die einen sagen: er ist schon da, die anderen
: auf diesen Pfaden wird er nahen; auch
Narren gibt's, die sagen: „wir bringen ihn",
aber in solchen Zeiten muß man sich doppelt
vor falschen Propheten hüten.

Stilfragen gab es niemals, sollten heute
ebensowenig erwogen werden. Man baut zeitgemäß
, das ist geschmackvoll! Der gute Stil
sucht nichts zu verhüllen, nichts vorzutäuschen.
Er wendet bei der einfachen Hütte dasselbe

Baumaterial an, womit ihn die Landschaft
freundlich begünstigt, wie beim himmel ragen den
Kathedralbau. Daraus entfaltet sich diese
entzückende Bodenständigkeit.

Der Holländer, der deutsche Maurer der
Marken versteht ebenso eigenartig und kundig
seinen gebrannten Formstein zu handhaben,
wie der Italiener der Aemilia, als Bewohner
eines Landes, wo sich günstige Tonlager und
lehmige Erden vorfinden. Hier konnte sich
der Backsteinbau mit seinen zarten Profilen
und seinem eigenartigen, rotfarbigen Zierat
entwickeln. Dort am südlichen Abhang des
Apennin ließen sich mächtige Quadern im
nahen Steinbruch heraushauen und zur urwüchsigen
Cyklopenmauer, der Rustica durchbilden
, da deren wenig dichtes, kaum durchlässiges
Gefüge keinen Mörtel verputz verlangte.
Bot das nahe Gebirge nur Bruchsteine und
um so besseren Weißkalk, dann erstand mit
Mörtelflächen und Stuckornamentik ein gar
herrlicher Palast. In früheren Zeiten, als der
historische Sinn noch nicht gepflegt wurde,
schleppte man aus der Umgebung Säulenschäfte
und Trümmer antiker Tempelruinen arglos
zusammen und vermauerte sie als Schmucksteine
in Kirchen und Häusern. Ein Ort
verstand vortrefflich ein Handwerk, und der
heimische Meister zögerte keinen Augenblick,
die Kunstfertigkeit seiner Landsleute seiner
Architektur nutzbar zu machen. Da überdies
aller Baustein vom Festland herbeige-
schifft werden mußte, bestellte er dünne
Marmorplatten und ließ sie, als Inkrustation,
mosaikartig versetzen.

So hatte jede Gegend vom Blockhaus der
waldreichen Alpenweltbis zum Poseidontempel
zu Paestum ihre heimisch erblühte Kunstform.
Jede Stadt, jede Zeit fand so ihre ganz einzige
Eigenart, ihren scharf ausgeprägten Charakter
. Wie weit hat sich das letzte Jahrhundert
von diesen Grundfesten entfernt!
Unter dem historischen Gesichtswinkel, auf
dem Weg der Kopie und des Plagiats, unter
der Last akademisch-klassizistischer Vorurteile
wurde der Baukunst jeder Grund und
Boden entzogen, jedes erschaffende Selbstbewußtsein
zerstört. Als schöpferische Kunst
sank sie tief herab!

Diesen Tiefstand mögen besser als eigene
Worte folgende kritische Zeilen eines tüchtigen
Schriftstellers beweisen, dem es als
ehrlichen Mann niemals in den Sinn gekommen
wäre, in seiner Berufsphäre ein Plagiat
zu verteidigen, geschweige zu preisen.
„Der Architekt — schreibt er — der mit
äußerst gewandter Anempfmdung so mancherlei
Stilformen durchprobiert hat, wollte

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