http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_10_1904/0198
^3ö> WIENER KUNST IM HAUSE <^5^-
Geschmacklos erscheint uns ein
Ding, das keine Vorfahren besitzt,
die es so, wie es ist, rechtfertigen.
Dies ist in weitestem Sinne gemeint. Dieses
Urteil „geschmacklos" richtet sich also immer
nach den Kenntnissen dessen, der es ausspricht
, ist ein Charakteristikum für ihn,
für seine Kenntnisse; es ist zeitlich
bedingt und geht nie gegen den Kern der
Sache. Es ist nur eine äußerliche Formel,
in der der Urteiler sein Verhältnis zu dieser
Sache auszudrücken bestrebt ist. Er macht
eine fragliche Rechnung glatt. Er urteilt
über sich, gibt anderen — eine endlose Kette
— Gelegenheit, sich in ihrem Urteil über ihn
wieder daran zu halten. Es bleibt immer
etwas Einzelnes. Worauf es aber ankommt:
ob es etwas ist oder ob es nichts ist,
ob es lebendige Kraft enthält oder nicht, das
wird umgangen.
Geschmacklos erscheint uns ein Ding, das
keine Vorfahren besitzt, die es so, wie es
ist, rechtfertigen. Ein Ding ohne Regel, ohne
Niederschlag einer Kunstauffassung, notdürftig
hergestellt, versehen mit willkürlichen
Verzierungen, die sich ausnehmen, wie
Klexe auf einem Blatt! Vielleicht kann
es so sein!
Es kann aber auch neu sein! Es geht
ganz unbetretene Wege. Hierzu gibt es also
noch keine Beziehungen. Hier meint dann
der Geschmack die schöpferische Kraft fesseln
zu können. Und hier setzt dann immer der
Kampf ein des Könnens, des Wollens mit
dem Geist, der seßhaft werden will. Ein
Phantom, ein Parasit der vorwärtsstrebenden
Entwicklung will herrschen, will Gesetze vorschreiben
, will dekretieren: so muß es sein
oder: so darf es nicht sein ! In diesem Giade,
wo ein Schein sich zum Wesen aufwerfen
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