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KÜNSTLER. WIEDERGEBURT DES MENSCHEN AUS DER LANDSCHAFT
mehr Raum und eine nicht unwichtige Rolle
zuerkannt wird. Aber freilich niemals so
weitgehend, daß die Natur, als durch Stimmungen
vollbeseelt, von den Künstlern geschildert
wird, daß der Mensch, der sich als Erscheinung
aus dem Kunstwerk gleichsam verloren
hat, in der Natur aufgeht, um sich in
ihr wieder zu finden, daß die Natur ein Spiegel
seines ganzen reichen Gefühlslebens wird.
Und hier ist der Punkt, wo sich die Erklärung
dafür ergibt, daß in einer und derselben
Epoche einerseits unter den bildenden
Künsten die Malerei, und zwar speziell die
Landschaftsmalerei, und andrerseits die Musik
eine solche Rolle spielt — die Verwandtschaft
liegt in dem Stimmungselemente. Denn
da, wo die Malerei, wie in der Stimmungslandschaft
, zu allgemeinsten, durch das Licht
bedingten Farbenwirkungen gelangt, nähert
sie sich, darf man sagen, der Tonkunst — bleibt
sie auch immer durch eine im Wesen der
Kunstarten begründete Kluft von ihr getrennt.
Insofern nämlich die farbige Erscheinung ähnlichen
Stimmungswert erhält, wie das Material
der Musik: der Ton, in dem das Gefühlsleben
unmittelbar sich äußert, die Empfindung selbst
Stoff des künstlerischen Ausdrucks wird! Der
Vergleich ergibt sich eben daraus, daß in
einer solchen Landschaftsmalerei die Einzelbedeutung
des Gegenständlichen, dessen bestimmteste
Form in der menschlichen Erscheinung
, die ja die plastisch ausgebildetste ist, gewahrt
wird, gegen farbige Gesamtwirkung zurücktritt
oder, besser gesagt, daß das Gegenständliche
in weitestgehendem Sinne subjektive
Gefühlsfärbung erhält. So und nicht anders
will es verstanden sein, wenn ich sage, die
Malerei gelange hier an die Grenze des Gebietes
, das der Musik besonders eigentümlich
ist. Immer aber haben wir, auf früher Gesagtes
zurückgreifend, zu betonen, daß in der Malerei
das Gegenständliche bleibt, mögen auch Bäume
und Wasser und Wolken so unmerklich ineinander
verschwimmen, wie in den Bildern
van Goyens oder Salomon Ruysdaels. Das
Gegenständliche bleibt und das Gegenständliche
ist entscheidend für unsere Gefühlsauffassung
. Der Wahn extremer moderner
Richtungen, es vernichten und bloßen Farbenreizen
die Wirkung von Tönen verleihen zu
können, ist in der letzten Vorlesung gekennzeichnet
worden. Das hieße, den Gesichtssinn
seiner edelsten Fähigkeiten berauben und
zu nichtssagender Tändelei herabwürdigen,
indem er sich, zum Verzicht auf Erweckung
sachlicher Vorstellungen gezwungen, auf ein
bloßes Spiel mit Farbensensationen reduziert
sieht. (Der Schluß folgt)
ATTIL I O SACCHETTO
VOR SONNENAUFGANG BEI TIVOLI (BLEISTIFTZEICHNUNG)
IX. Internationale Kunstausstellung München 1905
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