Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 17. Band.1908
Seite: 224
(PDF, 165 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_17_1908/0276
-g^> ALBERT VON KELLER

die Nacht, in der der Fackelschein lautlos ertrinkt
, oder er läßt aus der kühlen, gespenstischen
Gruftdämmerung unterirdischer Gelasse
das Totenreich vor uns erstehen. Dann
wieder lockt ihn der Gegensatz des fahlen,
ausgemergelten Leibes zur farbenreichen Umgebung
des bewegten Volkes oder die elektrische
Spannung des sich aufrichtenden Körpers
. Von alledem gibt das herrlich ausgereifte
große Bild gar nichts. Es ist etwas durchaus
Neues. Neu ist es auch in der freien Komposition,
die die ganze Szene verlebendigt und mit der
Natur in ein Gesamtbild bringt, in der großartigen
Beherrschung der Farbenwerte, in der
erstaunlichen Fähigkeit die verschiedensten
Arten des Ergriffenseins von einem Unerhörten
darzustellen. Alles beherrschend
erscheint Christus in der vornehmen Ruhe
seiner Hilfsbereitschaft, die ein wundersam
stilles Herabgleiten lebenerweckender Macht
ahnen läßt. Unbeschreiblich ist der Gesichtsausdruck
des sich selbst noch nicht bewußten,
immer noch erdenfernen Mägdleins, wie das

Erstaunen des ehrwürdigen Alten und seiner
großäugigen, durchgeistigten Tochter. Die
technischen und geistigen Werte halten sich in
diesem bedeutungsvollen Werke dieWagschale.

Auch die Kreuzigung ist ein von Keller oft
behandeltes Thema, am eindringlichsten in der
sogenannten „großen" Kreuzigung(Abb. S.237)
durchgeführt. Hier reizt es den Künstler vor
allem, das Hereinragen einer überirdisch hohen
Leidenswelt ahnen zu lassen, nicht deutlich
zu machen. Deshalb wird ihm auch die
Landschaft zum großen, symbolischen Farbenakkord
, in den er das tragisch schöne Sterben
Christi ausklingen läßt. Man muß in
gleichem Sinne den Kontrast zwischen dem
weichen, fast verklärten Körper des Heilandes
und den rohen, zerschundenen Leibern
der Schächer beachten. Man vergleiche deren
zusammengekauerte Haltung mit den der ganzen
Welt sich anbietenden Erlöserarmen und
sehe im Oberkörper des Herrn das unendlichen
Höhen Zuschwebenwollen, dem die Augen in
sich fast verzehrender Sehnsucht vorauseilen.

ALBERT VON KELLER

BEIM TEE (1886)

224


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