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-sr-£sö> DIE NEUE LANDSCHAFT <^=^
malsnichtausihrer
Entwicklungsstufe
heraus und setzten
diese Figürchen offenbar
unter einer
Zwangsvorstellung
hin. Und wie ich
jetzt jeden Rest dieser
„Staffage" als
Hemmung, als Ablenkung
empfinde,
gerade bei den besten
Landschaften
am unangenehmsten
!*) Freilich erst
jetzt nach der unfreiwilligen
Erfahrung
am eigenen
Fleische.
Daß die Staffage
nach und nach seltener
werden und
schließlich wegfallen
muß, ist ja einleuchtend
. Ich aber
behaupte mehr, daß
nämlich gerade im
Entwicklungsstadium
des Wegfallens
die „Neu-Dachauer" uns eine Landschaftgeben
(und geben müssen!), in der keine Figur mehr
eingeführt werden kann. Mit dem besten
Willen nicht.
Der verstorbene Professor Eduard Richter
hatte einmal den Malern den Vorwurf gemacht
, daß sie die Dolomiten so auffallend
vernachlässigten. Ich wollte ihn davon überzeugen
, daß die schönste Dolomit-Landschaft
kein guter Vorwurf für ein modernes Landschaftsbild
sei, und bei diesem Anlaß schickte
er mir ein sehr interessantes Zitat über die
psychologische Anziehungskraft des Individuums
an sich. Es ist nun offenbar die Erkenntnis
dieser Anziehungskraft, die den Landschafter
endlich ganz von der Staffage befreit
und ihm über die guten aber beschränkten
Rezepte der Barbizoner Zeit hinweggeholfen
hat. Jetzt konnte er autonom ein Individuum,
das Individuum (oder einen „Blick" solcher)
zum Zentrum (natürlich nicht im geometrischen
Sinne!) seines Bildes machen. Aber
dann Baum, Strauch, Stein, Pfütze lieber,
nur nicht Berg, ganz einfach deshalb, weil
er sich ja auf ungefähr eineinhalbmal Höhe
des Modells entfernen muß, will er es ge-
ALBERT VON KELLER
BILDNIS (1898)
*) Als leicht zugängliches Beispiel erwähne ich
nur die Corots im »Studio«, Okt. 1906, Nr. 163.
hörig überblicken.
Beim Berg ist er
dann weit weg, es
kommt leicht die
gefürchtete „Vedute
" heraus, und
er müßte einen Vordergrund
und vielleicht
noch Mittelgrund
dazutun.
Auch beim Baum
läßt sich der Vordergrund
nicht
leicht entbehren.
Er will aber sein
„Individuum" im
Vordergrund haben,
nimmt sich lieber
einen kleinen
Strauch, und wenn
er sich auf den
Bauch legen muß
(geschehen!), um
ihn richtig zu sehen
. Durch richtige
Raumstellung
braucht die Landschaft
deshalb an
Größe, Weite und
Tiefe nichts einzubüßen, nur wandern die Begleitformen
und nicht die Hauptsache in den
Mittel- und Vordergrund. Dabei ist er an sein
Individuum nahe herangerückt, was für ihn
wichtig ist, denn der moderne Landschafter ist
Kolorist geworden. Valeurs sind nötig, Form
ist gut, Linie nicht zu verachten — aber die
Farbe hat er seit den Impressionisten lieben
gelernt, denn sie bringt Licht und Licht unmittelbares
Wohlgefallen, Freude. Was von
ihm klafter- und kilometerweit abliegt, ist
mit einer dicken Schichte von Lufttönen verkleistert
, gibt nur ein Anstreichen von Flächen,
nur die nächste Nähe läßt jene üppige Fülle
von Farben bestehen, mit der der Schatten gegen
das Licht kämpft: „Hic Rhodus, hic salta!"
Damit ist die neue Landschaft geboren.
Groß und weit kann sie wirken, aber das
Individuum, das darin souverän herrscht,
duldet keinen Wettbewerb um die Aufmerksamkeit
des Beschauers und ist außerdem
schon an sich so klein, daß die Figur einfach
keinen Platz mehr neben ihm hat. Vielleicht
noch ein Käfer oder Vogel, aber dem fehlt
die Begründung der historischen Entwicklung,
und er würde nur komisch oder peinlich
wirken, wie es, unparteiisch gesehen, ja auch
die Figürchen auf so vielen Landschaften
mitvergangener Künstler tun.
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