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^=^> DAS GESETZ DES STILWECHSELS IN DER KUNST <^=^
Werk, welches durch übertriebene Stilisierung
den menschlichen Körper zum Ornament degradiert
, wird als Kunstwerk ebenso unbefriedigend
wirken wie eine Statue, die so naturwahr
ist, daß sie einem über dem Leben
geformten Gipsabguß gleicht. Ein Stuhl, der
aus lauter senkrecht aufeinanderstoßenden
Pfosten und Brettern zusammengesetzt ist, wie
sie sich ganz von selbst aus der Technik der
Schreinerei ergeben, kann zwar ein sehr tüchtiges
Handwerksprodukt, und wenn er außerdem
leidlich bequem ist, eine ganz respektable
Leistung sein. Aber ein Kunstwerk ist er
darum noch nicht, ebensowenig wie ein Stuhl,
der durch die starken Biegungen und Knik-
kungen seiner Füße und Lehnen und durch
allerlei gefahrdrohende spitzige Auswüchse
zwar den Eindruck organischen Lebens macht,
aber den Bedingungen des Materials Hohn
spricht oder den Körper dessen, der sich daraufsetzen
will, in beängstigender Weise gefährdet.
Eine Musik, die nur Form, d. h. Rhythmus und
Harmonie ist, wird uns ebensogut in tödliche
Langeweile versetzen wie eine solche, die ganz
Tonmalerei istund jedessinnlichen Reizes oder
jeder stilvollen Schönheit der Form entbehrt.
Das Wichtige ist nun, daß diese beiden
Elementgruppen zwei Extreme künstlerischen
Gestaltens repräsentieren, die unter Umständen
feindlich gegeneinander ausgespielt werden
können. Wer erinnerte sich z. B. nicht des
früher so lebhaft geführten und noch immer
nicht vergessenen Streites zwischen Form- und
Gehalts- (oder Ausdrucks-)Aesthetik in der
Musik? Der Kämpfe um die Programmusik,
um die Bedeutung des Inhalts in der Malerei
usw. Bei solchen Kämpfen handelt es sich
immer nur darum, ob in der Kunst dem
illusionserregenden oder dem illusionsstören-
den Element mehr Wichtigkeit beigemessen
F. MATSCH ADAM UND EVA (1901)
Detail des Ehrenpultes für R. Virchow
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