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-sj-4^> DAS GESETZ DES STILWECHSELS IN DER KUNST <^=^
nichts, sondern strebten im Gegenteil nach
Leben und Ausdruck. Das einzige, was man
vom ästhetischen Standpunkt sagen kann, ist:
daß Beides in der Kunst vorhanden sein muß,
organisches Leben, d. h. Naturanalogie oder
Naturwahrheit, und Stil, d. h. Rücksicht auf
das Material, die Technik, den praktischen
Gebrauch usw. Alle großen Meister haben
immer beides in ihrer Kunst vereinigt, nur
daß sie theoretisch je nach der gerade herrschenden
Richtung entweder die eine oder
die andere Seite in ihren Aeußerungen mehr
betont haben. Die alten Meister hatten Stil
und versicherten, daß sie nur nach Naturwahrheit
strebten. Die wirklich bedeutenden
modernen Meister haben Naturwahrheit und
versichern, daß sie nur von der Natur fortzukommen
, d. h. zum Stil zu gelangen
suchen. Das ist nur eine verschiedene Facon
de parier, der Sache nach ist es ganz dasselbe.
THOMAS GAINSBOROUGH VISCOUNTESS LIGONIER
Im Besitze des Herrn Asher Wertheimer, London
Nach einer Aufnahme der Photographischen Gesellschaft, Berlin
Nur untergeordnete Individuen, Nachtreter der
jeweils herrschenden Mode bekämpfen diejenige
Seite, die gerade zufällig in der Wagschale
in die Höhe schnellt, bis aufs Messer,
und glauben, Gott weiß was zu sagen, wenn
sie versichern, daß sie mit der einen Seite der
Kunst auskommen könnten. Sie werden sich
schon überzeugen, daß weder die illusionserregenden
, noch auch die illusionsstörenden
Elemente in den Himmel wachsen, daß sich
beide vielmehr trotz des Schaukelspiels der
Entwicklung im Grunde doch immer die Wage
halten müssen.
Man kann nun leicht nachweisen, daß mit
dieser Erklärung des Wechsels wirklich historisch
etwas gewonnen ist. Mit der früheren
Statuierung eines Wechsels bloß infolge von
Ermüdung und Sehnsucht nach neuen Reizen
war die Entwicklung tatsächlich nicht erklärt,
denn der Wechsel allein war gar nicht das
Entscheidende. Käme es nur auf ihn
an, so würde es vollkommen genügen,
wenn jede Generation die Natur oder
das organische Leben anders darstellte
, als die unmittelbar vorhergehende
. In welcher Richtung diese
Veränderung stattfände, wäre ganz
einerlei. Gerade dies ist aber, wie
die kunsthistorische Erfahrung lehrt,
durchaus nicht einerlei, sondern unterliegt
ganz bestimmten Gesetzen. Denn
die Veränderung rindet immer gerade
in der Richtung statt, die durch das
Präponderieren entweder der illusionserregenden
oder der illusionsstörenden
Elemente in der betreffenden Zeit
gegeben ist. So lange die naturalistische
Tendenz herrscht, kann die Entwicklung
immer nur in der Richtung
auf Steigerung der Illusion gehen.
Tritt die entgegengesetzte Tendenz
ein, so wird auch das Neue immer
in der entgegengesetzten Richtung
gesucht: Das läßt sich an der Entwicklung
einzelner Probleme, wie z. B.
des Raumproblems, deutlich beobachten
.
Die frühmittelalterliche Malerei bis
in das 13. Jahrhundert hinein kennt
kein Raumproblem in unserem Sinne.
Die architektonischen Räume, in denen
sich die Personen bewegen, werden
nicht der Wirklichkeit entsprechend
dargestellt, sondern nur angedeutet
, gewissermaßen symbolisch
markiert. Giotto bemüht sich schon,
wirkliche Räume zu schildern, aber
seine Perspektive ist noch falsch, die
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