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Die kraftgenialische Wildheit, die sich in
manchen Vorwürfen der Bilder Corinths zeigt
(„Die Blendung Simsons", „Der Tänzer", „Das
Martyrium"), lassen vermuten, daß der Künstler
die Welt schon in früher Jugend durch
vielleicht unvollkommene, aber unerhörte Ausbrüche
einer tollen Einbildungskraft verblüfft
hätte. Das trifft nicht zu. Kaum zwanzig
Jahre sind es, daß Corinth an die Oeffentlich-
keit trat und erst seit zehn Jahren zählt er
unter die Meister, die in aller Mund sind.
Seine zahlreichen Werke zeigen durchaus
keine Vorliebe für ein bestimmtes „Genre".
Ebenso trefflich wie die ausgelassene oder
blutdürstige Wildheit, behandelt er die ergreifende
Trauer („Kreuzabnahme"), den frischen
Humor und die derbe oder anmutige Sinnlichkeit
(„Silen und Nymphe", „Bacchanten",
„Harem", „Verkürzter Akt", „Nacktheit", „Das
Strumpfband", „Schlafendes Mädchen"). Das
Gegenständliche des Fleischerladens ist ihm
ebenso wichtig, wie eine weltgeschichtliche
Begebenheit. Eine alte Rüstung, ein bunter
Lappen, eine „sprechende" Stellung, ein Bühneneindruck
, auch wohl die Erinnerung an ein
gutes Bild bieten Corinth genügenden Anlaß
zur „Komposition" eines Gemäldes. Er benutzt
diese Anregungen zur Ausstattung und
Aufstellung seiner Modelle, die er mit großem
Geschick dem gegebenen Rahmen eingepaßt.
Manchmal wird noch während der Arbeit eine
Figur zugefügt, denn die Vorliebe für Ausnutzung
der Fläche überwiegt bei Corinth den
Sinn für Vertiefung in den Raum, er zieht
seine Gestalten nach Möglichkeit in den Vor-
dergrund(„Simson", „Familienbildnis"). Es soll
gewiß nicht behauptet werden, daß Corinth
es beim Zusammenstellen seiner Bilder an
Ernst und Geschmack fehlen lasse. Aber
während manchen Künstlern das Ausdenken
der Bilder als das Hauptsächlichste, Wertvollste
erscheint und das eigentliche Malen
als lästige Notwendigkeit, beginnt für Corinth
das wirkliche Schaffen erst, wenn er Pinsel
und Palette zur Hand nimmt und aus dem
stummen, starren Modell das sprudelnde Leben
herausholt, das so laut und überzeugend aus
allen seinen Werken spricht.
Eine besondere Wertschätzung genießt Corinth
als Porträtmaler. Bei der Eigenart seines
Schaffens ist es einleuchtend, daß seine Bildnisse
keine Idealporträts sind, in dem Sinne,
daß die Summen aller geistigen Eigenschaften
des Geschilderten sich in ihm findet, für die das
Körperliche gleichsam nur das Gerüst abgibt,
auf dem sie eingetragen sind, wie in das Schema
LOVIS CORINTH
NACKTHEIT (1908)
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