Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 17. Band.1908
Seite: 570
(PDF, 165 MB)
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VAN GOGHS BRIEFE <^ü=-

können) — diese Fülle von Liebe, diese Größe
des Menschlichen! Ein Künstler, der noch
Talent und Menschlichkeit beinahe primitiv
vereint. Als ihn schon die Nacht überschattet,
denkt er noch sorgend an seinen Freund Gauguin
, der im Elend verkommt, den er wieder
freudig machen will. Dieses Strömend-Reiche,
das sich in den Briefen mit so herrlicher
Schönheit enthüllt. „Mein lieber Meister",
so schreibt er an Gauguin, der das Zusammenleben
mit ihm aufgeben muß, da ein Wahnsinnsanfall
ausbrach, „es ist würdiger, nachdem
ich Sie gekannt und gekränkt habe, bei
voller Geistesklarheit, als in einem entwürdigenden
Zustand zu sterben." Er erschoß sich
und starb mit der Ruhe eines Helden.

Jawohl, das sind Helden. Das Bewußtsein,
daß es solche Künstlermenschen unter uns
gab, erhebt, tröstet, bereichert, macht jubeln.
Und ein solches Buch führt besser in die
moderne Kunst und ihre Probleme ein, als
hundert gründliche und noch so gelehrte Auseinandersetzungen
. Leben und Kunst ist hier
an der Quelle. Und wir erleben das beglückende
Schauspiel, daß die Kunst in uns auch noch
zu unserer Zeit Wunder wirkt. Denn das
Ringen um die Kunst hat das Leben des unglücklich
-glücklichen Mannes so verklärt, daß
es unnötig ist, über sein Schicksal zu klagen.
Dieses Schicksal ist ja für die Echten und
Großen nichts Seltenes. Das Große und Schöne
aber ist, daß sie selbst noch die Kraft haben,
alles Leid, das über sie hereinbricht, für
die Nachkommenden in Glück zu verwandeln
. Sie sind Ueberwinder, und
Schicksal und Unglück kommen nicht
gegen das Lebendige an, das in ihnen
wirkt. So schreiten sie noch, gefaßt und
heiter, dem Dunkel zu, das ihrer harrt. ...

Wer Künstler ist, sollte das Buch lesen;
es führt vom Alltag hinweg. Wer Kunst
liebt, der sollte es lesen, es gibt Offenbarungen
. Und alle die, denen Menschsein
mehr bedeutet, als Beruf und Gelderwerb
, sollten es lesen. Es reißt aus
den Kreisen der Enge heraus und stellt
mitten hinein in die Unendlichkeit. Alles,
was fremd ist, ist in diesem leidenschaftlichen
Feuer ausgeglüht. Um so strahlender
leuchtet das Eine, das Bleibende:
das Ringen eines Menschen, der sich
strebend vollendet.

PAUL JOANOWITSCH BILDNIS DER FRAU EDITH KANN

Münchner Jahresausstellung 1908

GEDANKEN ÜBER KUNST

Die ganze Aufgabe des Künstlers in der
Welt ist, ein sehnendes und fühlendes Geschöpf
zu sein; ein Werkzeug von solcher Zartheit
und Empfindsamkeit, daß kein Schatten, keine
Farbe, keine Linie, kein augenblicklicher,
schwindender Ausdruck der ihn umgebenden
sichtbaren Dinge, auch keine Gemütsbewegung,
die sie dem ihm verliehenen Geiste mitzuteilen
vermögen, uneingeschrieben bleibt oder in dem
Buch seiner Erinnerung verlöscht. Es ist nicht
seine Sache, zu denken, zu urteilen, zu beweisen
und zu wissen. Sein Platz ist weder
im Kabinett, noch auf der Gerichtsbank, noch
vor den Gerichtsschranken, noch in der Bibliothek
. Alles das ist anderen Menschen und anderer
Arbeit bestimmt. Er mag nachdenken,
nebenbei; nun und dann Schlüsse ziehen, wenn
er nichts Besseres zu tun hat; er mag wissen,
— die Bruchstücke, die er ohne Bücken sammeln
, ohne Mühe erreichen kann; aber dem
allen soll seine Sorge nicht gelten. Seine Lebensarbeit
soll nur eine zweifache sein: sehen,
empfinden. Ruskin

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