http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_18_1908/0300
UCKKEHR ZUM BIEDERMEIER
« nennt einer der
verdienstvollsten Bahnbrecher
im Kunstgewerbe, der
ebensosehr ein geistreicher
Plauderer ist, Henry van
de Velde, die Bewegung,
die jetzt allgemein als Reaktion
gegen des >Neuen
Stils« erste Lebensäußerungen
einzusetzen beginnt.
Ein solches Schlagwort besticht
, aber es gibt doch ein schiefes Bild von der
wahren Ursächlichkeit dieser Kunstwende und ihrem
eigentlichen Ziel. Nicht Ermüdung im Kampf um
die neue Idee weist uns auf die Formen der Vergangenheit
zurück, sondern die starke Sehnsucht
nach Klarheit und Ruhe; nicht Feigheit heißt uns
vom schwer zu Erringenden lassen, sondern der
bewußte Wille, die Arbeit auf einen bewährten Boden
zu gründen, um mit noch mehr Aussicht auf Erfolg
den Vorstoß in unentdecktes Gebiet zu wagen.
Wir haben es in Deutschland nur allzuoft erlebt,
daß die großen Ideen, die in den Kunstkampf getragen
wurden, die Allgemeinheit stark beeinflußten
und in ihr Verheerung genug anrichteten, während
die wahre Entwicklung abseits davon in stetiger
Arbeit ihre eigenen Wege ging, das Ueberkommene
leise wandelnd, das Neue aus unscheinbarem Keim
langsam fördernd, aber zu ganz anderem Endergebnis
, als es die anerkannten Propheten gedeutet hatten.
Eine Kunstauffassung, die in der Arbeit ganzer
Epochen nur eine Verzerrung des Stilgedankens erblickt
, ist subjektiv vielleicht berechtigt, aber wenn
der einzelne durch das Pathos der Ueberredung
eine Gesamtheit in die Sackgasse traditionsloser und
abstrakter Begriffskunst zu locken versucht, so ist
es eine natürliche Folgeerscheinung, daß diejenigen,
die an eine Kontinuität ursprünglicher und unwandelbarer
Stilgesetze durch alle echten Kunstepochen
glauben und überzeugt sind, daß ohne solche Gesetzmäßigkeit
der Begriff irgend eines früheren Stils
garnicht bestehen könnte — daß diese Rückschauenden
die Fäden dort wieder anknüpfen, wo sie zerschnitten
wurden, ihre Arbeit auf eine Epoche gründen
, in der sie Wesenverwandtes finden, und das
war für viele unter den Heutigen die Zeit der ersten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts.
Sonderbar ist das nicht, denn auch in dieser
Zeit lag die Reaktion gegen eine frostige Formalistik.
Die den Freiheitskriegen folgende Selbstbesinnung
der Deutschen fegte auch aus der Kunst die vom
Kaisertum diktierten pseudoklassischen Formen fort,
und der Zeitgeist forderte in seinen Hauptvertretern,
in Schinkel, und Semper, eine ganz andere vertiertere
Betrachtung des Alten, das was einer besonnenen
Prüfung standgehalten hatte, keineswegs
verschmähend. — So weist die Epoche eigentlich
alle Hauptzüge eines sachlichen Stils auf, die, unbeschwert
durch überflüssige Schmuckformen, auch
der ornamentalen Weiterbildung freiesten Spielraum
lassen. Der deutsche Geist war in Schlichtheit
jeder ihm gemäßen reicheren Entwicklung gewärtig.
Daß diese sich nicht gleich vollzog, hatte einmal
in der Armseligkeit der Epoche seinen Grund, zum
anderen in ihrer Unreife. Gleich Erzen im Schacht,
den meisten unsichtbar, von wenigen geahnt, schlummerten
die neuen Materialien, alle Möglichkeiten
einer vervollkommneten Technik, die erst eine zu
schaffende Industrie gewinnen konnte, und Hand in
Hand damit mußte ein erhöhter Nationalwohlstand
erst das Bedürfnis nach Verfeinerung des Komforts
wecken. Dieser Kampf um Technik und Wohlstand
ließ den deutschen Genius die Kunstprobleme von
damals auf sich beruhen, und so ist es der heutigen
Zeit vorbehalten geblieben, sie wieder ans Licht zu
ziehen. Wäre unsere jetzige technische Gestaltungsmöglichkeit
mit der gesunden Kunstart der vormärzlichen
Zeit zusammengefallen, so hätten wir die
folgerichtige Entwicklung eines deutschen Stils als
etwas Selbstverständliches erlebt, und niemand würde
es uns wie jetzt als einen Anachronismus vorwerfen.
Die heillose Formenjagd der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts hat uns deutlich genug gelehrt,
daß Stil nicht die Aeußerlichkeit der Dinge ist, nicht
Maßwerk noch Festons und Girlanden, noch Muschel
- und Blattwerk des Rokoko, aber ebensowenig
eine abstrakte Linienornamentik, daß vielmehr eine
im Schaffenden latent vorhandene innere Gesetzmäßigkeit
erst stilbildend wirkt, eine Fähigkeit der
Artunterscheidung, für die es im übrigen gleich ist,
in welchen letzten Formen sie sich äußert und die
überall anknüpfen kann und darf, wo sie Wesensgleiches
findet.
Diese Fähigkeit der Artunterscheidung ist es ja
auch, die die moderne Kunstästhetik zum Ausgangspunkt
ihrer Untersuchungen gemacht hat, die durch
die Deutung der Malerei und Graphik, der Plastik
und Architektur aus ihren technischen und Materialgesetzen
und der dadurch gezogenen Grenzen,
glücklichere Ergebnisse gezeitigt haben und den
Künstlern für ihre Wegrichtung dienlicher gewesen
sind, als die überholten Spekulationen des Intellekts
aus den Zeiten des Laokoon.
Diese moderne Methode wollen wir denn auch
auf das gewerbliche Gebiet anwenden: unerbittlich
prüfen, ob ein Werk gegen die Gesetze seiner Technik
oder Bestimmung verstoße, im übrigen aber
nicht fragen, ob seine Form eine nie vorher dagewesene
sei, vielmehr das schön Ueberkommene mit
Liebe pflegen.
Sind doch Ruhe und Klarheit der alten Formen
gute Geister, die die Nervosität des modernen Lebens
wirksam aus unserer nächsten Umgebung bannen
können, und es ist ein Zeichen von Gesundung, daß
der deutsche Geist, seiner Art gedenkend, auch die
Errungenschaften nicht achtlos beiseite wirft, die die
Vorfahren aus den großen Epochen früh erVölker zogen.
Kein neues Material, nicht die moderne Technik
der Ingenieure, verdrängt die ehernen Gesetze der
Mathematik, die für die Architektur aller Zeiten bestimmend
waren, und es ist geradezu paradox, gewisse
neue Kurven der Eisenkonstruktion als eine
der Zeit gemäße Formensprache auch auf andere
Aufgaben anwendbar zu erklären. Eine nüchterne
Auffassung, die sich nicht an Worten berauscht,
muß einen Raum ablehnen, der »eigentlich nicht
architektonisch gelöst«, vielmehrdie »Hohlform einer
ornamental stilisierten Riesenfrucht« ist, ein Grabmal
, das weder Architektur, noch Plastik, vielmehr
ein unnennbares Neues, ein nie vorher gedachter
Steingedanke sein soll. Und wenn solche Erscheinungen
heute nicht mehr große Kreise ziehen, so
ist dies nur ein untrügliches Zeichen, daß wir der
Erfassungderwesentlichen Bedingungen einesKunst-
werks wieder näher gekommen sind. Wenn wir bei
der Architektur die Mathematik herrschen lassen,
werden wir bei den Möbeln, deren Eleganz und
Bequemlichkeit wir bewundern, auch gerne das Geheimnis
dieser Wirkungen in ihren Maßen und
Verhältnissen suchen, wenn wir auch die zeitliche
Beigabe von Schmuckformen als überflüssig und
oft störend uns nicht zum Muster dienen lassen
wollen. Die Zweckdienlichkeit und der Formenadel,
den die einzelnen Geräte der älteren Zeiten aufweisen
, lassen uns recht die Kluft empfinden, die
274
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_18_1908/0300