Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 18. Band.1908
Seite: 310
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_18_1908/0338
-sr^> GEORG SIMMEL: DAS PROBLEM DES STILES <ösM?>

keine Deklassierung des Kunstgewerbes, so
wenig überhaupt das Allgemeinheitsprinzip und
das Individualitätsprinzip eine Rangordnung
untereinander besitzen. Sie sind vielmehr die
Pole der menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten
, von denen keiner entbehrt werden kann,
und von denen jeder nur im Zusammenwirken
mit dem andern, wenn auch in unendlich abgestuften
Mischungen, das Leben, das innere
wie das äußere, das aktive wie das genießende,
an jedem seiner Punkte festlegt. Und wir
werden die vitalen Bedürfnisse kennen lernen,
denen gerade nur die stilisierte, nicht aber
die künstlerisch-individuelle Gerätschaft genügen
kann.

Wie sich aber vorhin dem Begriff der künstlerischen
Individualgestaltung gegenüber der
Einwand regte, daß doch auch die großen Künstler
einen Stil haben — nämlich den ihrigen, ein
Gesetz zwar, und darum Stil, aber ein individuelles
Gesetz — so hier der entsprechende:
wir sehen doch auch, namentlich neuerdings,
wie die Gegenstände des Kunstgewerbes individuell
gestaltet werden, von ausgesprochenen
Persönlichkeiten, mit dem unverkennbaren,
unverwechselbaren Cachet eben dieser, wir
sehen den einzelnen Gegenstand oft nur in
einem einzigen Exemplar, vielleicht nur für
einen einzigen Benutzer hergestellt. Aber ein
eigentümlicher, hier nur anzudeutender Zusammenhang
läßt dies nicht zu einer Gegeninstanz
werden. Wenn man von gewissen Dingen
sagt, sie seien einzig, von anderen, sie seien
ein einzelnes von vielen — so hat dies oft,
und sicher in diesem Falle, nur symbolische
Bedeutung. Wir meinen damit eine gewisse
Qualität, die dem Dinge eigen ist und die
seiner Existenz den Sinn der Einmaligkeit
oder der Wiederholtheit gibt, ohne daß sein
zufälliges äußeres Schicksal diesen ins Quantitative
gewendeten Ausdruck seines Wesens
immer realisierte. Wir haben alle die Erfahrung
gemacht, daß ein Satz, den wir vernehmen,
uns als banal anwidert — ohne daß wir doch
behaupten könnten, ihn schon oft oder vielleicht
überhaupt schon gehört zu haben —
er ist eben innerlich, qualitativ, abgegriffene
Münze, auch wenn noch niemand sonst mit
ihm hantiert hätte, er ist banal, weil er banal
zu sein verdiente. Und umgekehrt haben wir
von manchen Leistungen und von manchen
Menschen den gar nicht widerleglichen Eindruck
, daß sie einzig sind — mögen die zufälligen
Kombinationen des Daseins auch
wirklich noch ein oder viele genau gleiche
Dinge oder Seelen produzieren. Das berührt
keine von diesen, denn es ist ihr Sinn, sozusagen
ihr Recht, einzig zu sein, oder vielmehr

diese numerische Bestimmung ist nur der Ausdruck
etwa für eine qualitative Vornehmheit
des Wesens, deren Lebensgefühl Unvergleichbarkeit
ist, auch wenn sie Pairs neben sich
sieht. Und entsprechend steht es mit den
Singularitäten des Kunstgewerbes: weil ihr
Wesen der Stil ist, weil die allgemeine künstlerische
Substanz, aus der ihre besondere Gestalt
gebildet ist, immer an ihnen fühlbar bleibt,
ist es ihr Sinn, reproduziert zu werden, sind
sie von innen her auf Vielmaligkeit angelegt,
wenn auch Kostbarkeit, Kapriziosität oder eifersüchtige
Ausschließung sie zufällig nur einmal
wirklich werden lassen.

Anders aber steht es mit denjenigen künstlerisch
gestalteten Gebrauchsgegenständen, die
tatsächlich durch ihre Formgebung diese Stilbedeutung
ablehnen und als individuelle Kunstwerke
wirken'wollen oder auch tatsächlich wir-

E

ken. Undgegen diese Tendenz desKunstgewerbes
möchte ich den schärfsten Protest einlegen.
Seine Gegenstände sind dazu bestimmt, in das
Leben einbezogen zu werden, einem von außen
gegebenen Zweck zu dienen. Damit stehen
sie in völligem Gegensatz zum Kunstwerk,
das selbstherrlich in sich geschlossen ist, jedes
eine Welt für sich, Zweck in sich selbst, schon
durch seinen Rahmen symbolisierend, daß es
jedes dienende Eingehen in die Bewegungen
eines ihm äußeren und praktischen Lebens ablehnt
. Ein Stuhl ist da, damit man darauf
sitzt, ein Glas, damit man es voll Wein schenke
und in die Hand nehme; machen beide nun
durch ihre Formgebung den Eindruck jener
selbstgenugsamen, nur dem eigenen Gesetz
folgenden, die Autonomie der Seele ganz in
sich ausdrückenden Ku nst mäßigkeit— so entsteht
der widrigste Konflikt. Auf einem Kunstwerk
zu sitzen, mit einem Kunstwerk zu hantieren
, ein Kunstwerk für die Bedürfnisse
der Praxis zu gebrauchen — das ist wie Menschenfresserei
, die Entwürdigung des Herrn
zum Sklaven — und zwar nicht eines Herrn,
der es durch die zufällige Gunst des Schicksals
, sondern von innen her, nach dem Gesetze
seiner Natur ist. Die Theoretiker, die
man in einem Atem verkünden hört, daß
das Kunstgewerbestück ein Kunstwerk sein
solle, und daß sein höchstes Prinzip die
Zweckmäßigkeit sei, scheinen den Widerspruch
nicht zu fühlen: daß das Zweckmäßige ein
Mittel ist — das also seinen Zweck außer
sich hat — das Kunstwerk aber nie Mittel,
sondern in sich beschlossenes Werk, niemals,
wie jenes „Zweckmäßige", sein Recht von etwas
entlehnt, was nicht es selbst ist. Das Prinzip,
daß möglichst jedes Gebrauchsstück ein individuelles
Kunstwerk sei, wie der Moses von

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