Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 18. Band.1908
Seite: 313
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-ss-^> GEORG SIMMEL: DAS PROBLEM DES STILES <^ä-e-

Michelangelo oder der Jan Six von Rem-
brandt, ist vielleicht das karikierendste Mißverständnis
des modernen Individualismus.
Es will den Dingen, die für andere und anderes
da sind, die Form derer geben, deren Sinn
in dem Stolze des Für-sich-seins liegt; den
Dingen, die gebraucht und verbraucht, gerückt
und herumgereicht werden, die Form derer,
die wie eine selige Insel unbewegt allen Trubel
der Praxis überdauern; endlich den Dingen,
die sich wegen ihres praktischen Gebrauchszweckes
an das Allgemeine, Generelle in uns
wenden, an das mit vielen Geteilte, will es
die Form derer geben, die einzig sind, weil
eine individuelle Seele ihre Einzigkeit in ihnen
verkörpert hat, und die deshalb auch auf den
Einzigkeitspunkt in uns gravitieren, auf den,
wo jeder Mensch mit sich allein ist.

Und hier liegt nun endlich der Grund,
weshalb alle diese Bedingtheit des Kunstgewerbes
nicht etwa eine Herabsetzung bedeutet.
Statt des Charakters der Individualität soll es
den Charakter des Stiles haben, der breiten
Allgemeinheit - womit natürlich keine absolut
breite gemeint ist, die jedem Banausen
oder auch nur jeder Geschmacksrichtung zugängig
wäre — und es vertritt damit innerhalb
der ästhetischen Sphäre ein anderes, aber
kein minderwertiges Lebensprinzip als die
eigentliche Kunst. Ueber dieses Anderssein
darf es nicht täuschen, daß die subjektive
Leistung seines Schöpfers dieselbe Feinheit
und Größe, Vertiefung und Erfindungskraft
zeigen kann, wie die des Malers oder des
Bildhauers. Daraus, daß der Stil sich auch
im Beschauer an die Schichten jenseits der
rein individuellen wendet, an die breiten, den
allgemeinen Lebensgesetzen Untertanen Gefühlskategorien
in uns, stammt die Beruhigung
, das Gefühl von Sicherheit und Unauf-
gestörtheit, das der streng stilisierte Gegenstand
uns gewährt. Von den Erregungspunkten
der Individualität, an die das Kunstwerk
so oft appelliert, steigt dem stilisierten
Gebilde gegenüber das Leben in die befrie-
deteren Schichten, in denen man sich nicht
mehr allein fühlt, und wo — so wenigstens
werden sich diese unbewußten Vorgänge deuten
lassen — die überindividuelle Gesetzlichkeit
der objektiven Gestaltung vor uns ihr
Gegenbild in dem Gefühl findet, daß wir
auch unsererseits mit dem Ueberindividuellen,
dem Allgemein-Gesetzlichen in uns selbst
reagieren und uns damit von der absoluten
Selbstverantwortlichkeit, dem Balancieren auf
der Schmalheit der bloßen Individualität erlösen
. Dies ist die tiefere Veranlassung, weshalb
die Dinge, die uns als Hintergrund oder

Basis des täglichen Lebens umgeben, stilisiert
sein sollen. Denn in seinen Zimmern
ist der Mensch die Hauptsache, sozusagen
die Pointe, die, damit ein organisches und
harmonisches Gesamtgefühl entstehe, auf
breiteren, weniger individuellen, sich unterordnenden
Schichten ruhen und sich von
ihnen abheben muß. Das Kunstwerk, das im
Rahmen an der Wand hängt, auf dem Sockel
steht, in der Mappe liegt, zeigt schon durch
diese räumliche Abschließung, daß es sich
nicht in das unmittelbare Leben mischt, wie
Tisch und Glas, Lampe und Teppich, daß es
der Persönlichkeit nicht den Dienst der „notwendigen
Nebensache" leisten kann. Das
Prinzip der Ruhe, das die häusliche Umgebung
des Menschen tragen muß, hat mit wunderbarer
instinktiver Zweckmäßigkeit zu der
Stilisierung dieser Umgebung geführt: von
allen Gegenständen unseres Gebrauches sind
es wohl die Möbel, die am durchgehendsten
das Cachet irgend eines „Stiles" tragen. Am
fühlbarsten wird dies am Eßzimmer, das schon
aus physiologischen Motiven die Ausspannung,
das Herabsteigen aus den Erregungen und dem
Wogen des einzelnen Tages in eine breitere,
mit anderen geteilte Behaglichkeit begünstigen
soll. Ohne sich dieses Grundes bewußt zu
sein, hat die ästhetische Tendenz von jeher
gerade das Eßzimmer besonders „stilisiert"
haben wollen und hat die in den siebziger
Jahren beginnende Stilbewegung in Deutschland
zu allererst das Eßzimmer ergriffen.

Wie aber allenthalben das Prinzip des
Stiles ebenso wie das der Formeinzigkeit irgend
eine Mischung und Versöhnung mit dem je
entgegengesetzten aufzeigte - so rektifiziert
sich von einer höheren Instanz aus auch die
Reserve der Wohnungseinrichtung gegenüber
der individuell-künstlerischen Gestaltung und
die Forderung ihrer Stilisiertheit. Eigentümlicherweise
nämlich besteht für den modernen
Menschen — diese Stilforderung eigentlich
nur für die einzelnen Gegenstände
seiner Umgebung, keineswegs aber ebenso
für die Umgebung als Ganzes. Die Wohnung,
wie sie der einzelne nach seinem Geschmack
und seinen Bedürfnissen einrichtet, kann
durchaus jene persönliche, unverwechselbare,
aus der Besonderheit dieses Individuums
quellende Färbung haben, die dennoch unerträglich
wäre, wenn jeder konkrete Gegenstand
in ihr dieselbe Individualität verriete.
Dies mag auf den ersten Blick sehr paradox
erscheinen. Aber angenommen, es gälte, so
würde es zunächst erklären, weshalb Zimmer,
die ganz streng in einem bestimmten historischen
Stil gehalten sind, zum Bewohnen für

Dekor vtive Kunst. XI. 7. April 1908.

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