http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_18_1908/0385
-sr4^> RICHARD WAGNER UND DAS KÜNSTLERTHEATER <^M?~
Täuschung nachahmenden Bühnendekoration
war vor einem halben Jahrhundert vielleicht
berechtigt, heute aber, da sie in fast beängstigender
Weise auf unsern Theatern sich
verwirklicht hat und dem Bedürfnis der Zeit
durchaus entgegen ist, wird sie mit eben demselben
Rechte wieder bekämpft. Das deutsche
Volk hat gerade in Bezug auf künstlerische
Dinge in den letzten Jahrzehnten eine tiefe
Wandlung durchgemacht. Es hat sich zwar
zögernd nur und immer in weitem Abstände
sich haltend, der Führung der modernen Kunst
anvertraut und von ihr langsam auf künstlerischen
Boden ziehen lassen. Die Rolle des
Genießenden hat sich verschoben, sie ist immer
aktiver geworden und macht den Genuß nicht
mehr vom Kunstwerk allein, sondern gleichzeitig
auch von der Fähigkeit des Betrachters,
in dasselbe sich einzufühlen, abhängig. Ja,
darin liegt die wesentliche Bedeutung unserer
heutigen Kunst, daß sie in höherem Grade als
die Künste früherer Zeitalter die Mittätigkeit
des Genießenden verlangt, ihn zur Mitarbeit
am Phantasieleben auffordert und, sofern die
nötigen Voraussetzungen vorhanden sind, ihm
als Dank dafür ein tieferes Erfassen und innigeres
Erleben ihrer Werke ermöglicht.
Dr. Eugen Rentsch
NEUE ARBEITEN VON MAX BENIRSCHKE
Die Anbahnung einer charaktervollen, den
praktischen und ästhetischen Bedürfnissen
einer neuen Zeit entsprechenden Kultur war
das große Ziel des kühnen Vormarsches, den
vor nunmehr zwölf Jahren unsere Kunstge-
werbler auf dem gesamten Gebiete der angewandten
Künste mit fliegenden Fahnen und
mit jubelnder Siegeshoffnung antraten. Der
Sieg ist noch immer nicht erkämpft. Trotz
der lauten Siegesfanfaren, die von St. Louis
und von Dresden herübertönten. Neuerdings
macht sich sogar ein gewisses Stocken und
Zögern in den Reihen fühlbar. Es ist noch
kein Rückmarsch, aber man hält Rückschau.
Ueber dem tollkühnen Vorwärtsstürmen ist
die innere Operationslinie verloren gegangen.
Der Zusammenhang mit der Tradition, der
uns erst das ungern entbehrte Gefühl der
Sicherheit beim Schaffen gibt, muß wiedergewonnen
werden, ehe es weitergeht. Wir
sind ja glücklicherweise heute so weit, daß
wir uns vor der alten Kunst nicht mehr
fürchten. Durch vielhundertjährige Vererbung
lebt sie ohnedies fort in uns mit ihren formengebenden
Gesetzen, und immer klarer wird
die Erkenntnis, daß wir zur Unnatur kommen,
wenn wir dauernd und grundsätzlich, nur um
des Nouveaute-Reizes willen auf zweifelhaften
Wegen planlos umherirren, obwohl das
bewährte Gute der alten Straße klar und unbestreitbar
zutage liegt.
Nicht die wildstürmende Genialität tut uns
fernerhin not, die uns eine neue, frei aus ihrer
schwunghaften Phantasie geborene Kunst mit
ungestümem Drängen zu suggerieren sucht.
Nicht um die starken Wirkungen, sondern um
die einfachen und tiefen handelt es sich, durch
deren Nachhaltigkeit und Dauer uns endlich
das Gefühl und Verständnis für das Wesentliche
als ein unverlierbarer Schatz in Fleisch
und Blut übergehen soll. Was bloße Mode an
der neuen Bewegung ist, wird durch die
Kunst selber und durch das Volk abgestoßen
werden. Bleiben kann und wird nur, was sich
den ungeschriebenen, aber aller echten Kunst
immanenten künstlerischen Gesetzen fügt.
Noch immer ist eines der Hauptziele der
Bewegung, die Entwicklung des Sinnes für
Qualität und Echtheit, nicht erreicht. Ein Blick
in die Schaufenster auch der besseren Geschäfte
in unseren Großstädten beweist das
zur Genüge. Ehe nicht wenigstens das gebildete
Publikum sich über diese Grundlage
jeder gedeihlichen Weiterentwicklung einig ist,
ehe nicht der Ausdruck der inneren Wahrhaftigkeit
für unser Werturteil über ein Werk
von bestimmender Bedeutung wird, schweben
alle Versuche zur Gewinnung eines neuen,
reicheren Formenstils in der Luft. Kommen
muß dieser reichere Stil. Die bloße Zweckform
ist noch nicht Kunst. Diese setzt erst
da ein, wo ideale Ziele verwirklicht werden.
Die reinen Verhältnisse allein genügen nicht;
auch Aufbau, Plastik, Flächenwirkung, Farbe
kommen in Betracht.
Der moderne Künstler, der mit Fleisch und
Blut modern fühlt, und der alte Künstler, der
nur die reine Tradition empfindet und nichts
anderes gelten läßt, sind die Extreme, die
sich gegenüberstehen. Jetzt fängt der erstere
an, sofern sein Schaffen überhaupt auf Echtheit
der Begabung beruht, abzuschleifen und
abzustoßen, was nicht lebensfähig war in seiner
Kunst. Das unsinnige Wüsten durcheinander
und gegeneinander hört auf. Die wilde „Formenschlacht
" naht ihrem Ende. Der andere,
355
45*
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_18_1908/0385