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-^sö> DAS NEUE DEUTSCHE BILDERBUCH <^=^
„Da kam die Faule heim, aber sie war ganz mit Pech bedeckt, und der Hahn auf dem Brunnen, als er^.sie sah, rief: „Kikeriki — unsere
schmutzige Jungfrau ist wieder hie."
FARBIGE ZEICHNUNG VON FRITZ KUNZ AUS „FRAU HOLLE" (VERLAG VON JOSEF SCHOLZ, MAINZ)
Einhüllende. Es will, daß es gleichsam einen
freundlichen Erwachsenen neben sich fühlt,
der ihm erzählt. Dann vertieft es sich gerne
und läßt sich hinwegführen, und die Augen
glühen, die Backen glänzen, und der Ruf der
Mutter, die zum Aufhören mahnt, verhört un-
gehallt. — Die Geschehnisse begleiten es bis
in den Traum.
Es ist darum sehr erklärlich, daß die lehrhafte
Gattung dem Kinde nicht behagt. Das
Kind unterscheidet schon sehr fein, wo es
belehrt und wo es unterhalten wird. Diese
Bücher von früher mit dem aufdringlichen,
moralischen Unterbau zeigen die Kinderwelt,
wie sie dem sentimentalen Erwachsenen erscheint
, mit all der Gefühlsduselei, den erdachten
Empfindungen, den falschen Schlüssen, der
Tugend- und Lastermoral. Das Kind, wie es
sein soll, nicht wie es ist, wird als Ausgangspunkt
genommen. Denn das Kind ist kein
Musterexemplar, kein Komplex von Moral,
keine Unschuld, wie man es sich früher vorstellte
. Das Kind, da es die Fülle des Lebens im
Abbild haben will, nimmtganz gerne Kampf und
Tod und Mißhandlung mit in den Kauf. Es sieht
eben noch naiv, nur die Vorderfläche der Dinge;
es ermißt das damit verbundene Unglück nicht.
Es freut sich an List und Verschlagenheit.
Diesen ganzen Umkreis will es erleben, nicht
den kleinen Ausschnitt bürgerlicher Lehrmoral.
Es sieht auch inhaltlich, flächig, dekorativ,
und das Gelesene ist ihm nicht Wirklichkeit,
sondern Traum. Darum kann man sagen, daß
das Kind noch instinktiv Künstler ist, was
der Erwachsene verlernt, um das Stadium
des bewußten Zurückeroberns des künstlerischen
Erlebens selten zu erreichen. Hierzu
kommt, daß das Kind noch instinktiv die Vorstellung
von der ausgleichenden Gerechtigkeit
hat, so daß alles, auch das traurigste Geschehen
symbolisch bleibt. Im Gegensatz dazu
will das Kind aber auch nicht das Kindische,
das Allzu-kindlich-Nachahmende. Es will seine
Welt. Seine Welt ist aber zugleich die Ahnung
eines Höheren, Reicheren. Es ist dem Kind
nichts peinlicher, als sich nachgeahmt zu sehen.
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