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AUS DEN BERLINER KUNSTSALONS
heinrich von zügel
auf staubiger s t r a s s e (1908)
Winter-Ausstellung der Münchner Secession
muß die Erscheinungen der Natur überschraubt
und überspitzt zum Ausdruck bringen. Darauf
gründet sich ja der Unterschied zwischen Natur
und Kunst. Die Natur ist die Folie. Die Kunst
ist kondensierte, übertriebene Natur.
„Fröhliche Farbigkeit" — das ist das Charakteristikum
von Zügels Kunst. Keine Buntheit
, die in Flächen grelle Lokalfarben nebeneinanderstellt
, wie die jüngsten Franzosen und
ihre deutschen Imitatoren, sondern eine Farbigkeit
, deren Wirkung von innen herauskommt,
die voll des Leuchtens, voll des Glanzes ist.
AUS DEN BERLINER KUNSTSALONS
TAas Ereignis der letzten Zeit war die Ausstellung
*^ des großen dreiteiligen Altarbildes, das Lovis
Corinth der Kirche seiner Vaterstadt Tapiau
zum Geschenk bestimmt hat, im großen Saal des
Kunstsalons Cassirer. Es zeigt in dem erhöhten
Mittelstück den ans Kreuz gehefteten Heiland
mit schmerzhaft gekrümmten, blutig durchbohrten
Händen und Füßen vor einem wildzerrissenen
grau-weißen Gewitterhimmel in öder Felslandschaft.
Die linke Seite des Altares fesselt durch eine seltsam
-eindrucksvolle Gestalt: hier steht vor einer
leichtfarbig angedeuteten Mauer in blauem, kurz
geschürzten Rock, ei. schwarzhaariger, wildfanatisch
dreinblickender Mann, S. Paulus, der das blanke
Schwert im Arm auf eine Schriftstelle seines
offenen Buches deutet. Ein loderndes Feuer geht
von diesem hageren Asketen aus, der frei von
allen Merkmalen herkömmlicher Heiligenmalerei
gerade uns modernen Menschen im höchsten Maße
wahr und ungekünstelt erscheint, uns, die wir nur
in eine jener Versammlungen zu gehen brauchen,
wie sie die Heilsarmee abhält, um den Typus dieses
Apostels kennen zu lernen. In scharfem Gegensatz
zu ihm steht der heilige Matthäus auf der Gegenseite
: hier sitzt ein langbärtiger, milde blickender
Mann bei seiner Schreibarbeit, ein jugendlicher,
buntgeflügelter Engel ist neben ihn getreten und
richtet mit einer Wendung zu dem Heiligen seine
Augen himmelwärts. Der Eindruck, der von diesem
Teil des Ganzen ausgeht, ist schwächer, man denkt
bei dem Matthäus zu stark an das Modell und
empfindet den dargestellten Augenblick der göttlichen
Botschaft nicht als ganz glaubwürdig. Darum
kehrt der Blick zu der prägnanten, eminent durchfühlten
Figur des Paulus zurück und zu dem Christus,
der bei aller Betonung der Todesschrecken und
Marterwunden doch edel und schön bleibt. Daß
dem Künstler hierbei das große Vorbild Grünewalds
vorgeschwebt hat, ändert nichts an dem reinen Gesamteindruck
: es ist nicht zu verkennen, daß wir
in Corinths Tapiauer-Altar eine der bedeutendsten
Leistungen kirchlich-religiöser Malerei seit langer
Zeit vor uns haben. Er beweist, daß wir uns
eben nicht an hohlgewordene, traditionelle Formen
akademischer Schönmalerei klammern dürfen,
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