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MODERNE EHRENURKUNDEN
Körperschaften und Vereinigungen zur Stiftung
von „Adressen" veranlassen können, gehen
uns hier wenig an. Es genügt die Feststellung
der Tatsache, daß wir, die wir ja auch die
Titel und Orden so sehr zu überschätzen
pflegen, in der Verleihung von Ehrenurkunden
ebenfalls nichts weniger als zurückhaltend sind.
Leider steht die enorme Quantität namentlich
der Ehrenmitgliedschafts - Urkunden unserer
zahllosen Vereine in krassem Gegensatz zu
der Qualität unserer Ehrenurkunden. Außerdem
hat es den Anschein, als ob der konservative
Zug, der in diesen Auszeichnungen
selbst liegt, einen nicht gerade erfreulichen
Einfluß auf die äußere Gestaltung ausübe.
Es ist unglaublich, aber leider wahr, daß die
banalen Renaissance-Allegorien heute nicht nur
nicht ausgestorben sind, sondern geradezu eine
unbeschränkte Lebensdauer zu haben scheinen.
Als im Jahre 1894 Georg Büß bei Julius
Hoffmann in Stuttgart seine „Ehrenurkunden"
herausgab, konnte man sich nicht wundern,
fast ausschließlich historischen Stilformen zu
begegnen. Obwohl zahlreiche der besten Namen
wie Menzel, Klinger, Kaulbach, Gehrts,
Klimt, Rösler und andere mit ihren berühmtesten
Arbeiten vertreten waren, hat das Werk
heute nur noch ein historisches Interesse. Man
hatte fast ausnahmslos gerade das Wichtigste
vergessen, nämlich
die Schrift. Das
Bild war zur
Hauptsache geworden
; konservative
Schmuckmotive
überwucherten alle
Teile des Pergamentblattes
; aber
gerade das, worauf
es am meisten ankam
, wurde in der
uns vorangegange-
nenGeneration vollständig
vernachlässigt
. Es war dies
ja die Zeit, in der
man bei allenkunst-
gewerblichen Entwürfen
, die auch
Worte enthalten
sollten, den kurzen
Hinweis „Raum für
die Schrift" an-
KARL GROSS UND PAUL RÖSSLER-DRESDEN □ EHRENZEICHEN brachte, Ohne Sich
an redet so viel von Diplomen,
Adressen oder Ehrenbürgerbriefen
, ohne sich darüber Rechenschaft
zu geben, daß diese Bezeichnungen
eigentlich unpas-
LJ send sind. Während man doch
gerade im Gegensatz zu gewöhnlichen Schriftstücken
oder „Akten" außerordentliche, zu besonderen
Anlässen hergestellte feierliche Aufzeichnungen
meint, scheint, man vergessen
zu haben, daß gerade ein „Diplom" ein
doppelt gefaltetes Schriftstück bedeutet, also
dem Namen nach zu den Durchschnittsakten
zählen müßte. Eine „Adresse" sagt nur aus,
an wen ein Schreiben gerichtet ist, enthält somit
gerade in unserer Zeit, die das „engros-
Adressenschreiben" professionsmäßig betreibt,
nichts weniger als einen festlichen Ausdruck.
Und was den Ehrenbürgerbrief anbelangt, erinnern
wir uns, daß „Brief" vom lateinischen
„breve" kommt, also streng genommen nur
eine kurze Mitteilung, wieder nichts Feierliches
ist, und daß, nebenbei bemerkt, die Kürze
auch nicht immer den Tatsachen entspricht.
Wir werden daher besser tun, bei dem Worte
„Ehrenurkunden" zu bleiben, wodurch der
gehobene Anlaß markiert wird, ohne daß man,
was die Form anbelangt, nach der einen oder
anderen Seite gebunden wäre.
Ob es sich um
eine Mappe mit der
Einlage eines oder
mehrerer Blätter
handelt, ob eine
Rolle mit anhängendem
Siegel in
einer Hülse oder
ohne diese in Frage
kommt, ob man die
Ehrenurkundenoch
mit einer besonderen
Kassette umschließt
, und aus
welchem Materiale
diese Kassette etwa
hergestellt ist — all
dies spielt hierbei
gar keine Rolle. Die
zahllosen gegebenen
oder aber mitunter
etwas gewaltsam
konstruierten
Anlässe, welche die
verschiedensten
Dekorative Kunst. XIV. i. Oktober 1910
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