Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 24. Band.1911
Seite: 144
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MARIONETTEN

Die neu entflammte Liebe zur drahtgezogenen
Puppe stammt ursprünglich aus der Literatur.
Früher war es das Volk, das große Kind, das
sich an den Puppen ergötzte. Aber es scheint,
daß sich das 19. Jahrhundert, das doch bei
all seinen glänzenden Eigenschaften den Parvenü
nicht ganz verleugnen kann, zu klug, zu
erwachsen vorkam, um der spielerischen Romantik
, der unproblematischen Ironie der Marionetten
zuzujubeln. Den Hanswurst zwar hat
es nicht töten können. Er fuhr auch im Jahrhundert
der Wissenschaften und der endlich gelösten
Welträtsel fort, über Tod und Teufel zu
triumphieren, denn Hanswurst ist ewig, mächtig
und geheimnisvoll wie ein Elementargeist. Aber
die liebenswürdigen, schüchternen Marionetten
wurden von Dampf, Elektrizität und Bildung zur
Strecke gebracht, eine kleine Tragödieim Winkel
der Kultur.

Eines Tages wurden sie, in der Theorie wenigstens
, von den Dichtern wieder entdeckt. Eine
neue Romantik sah in der drahtgezogenen Puppe
nichts geringeres als die Trägerin der modernen
Schicksalsidee. Ihre fromme, sklavische Abhängigkeit
von Faden und Holzkreuz schien das

JOSEPH WACKERLE

metaphysische Knechtschaftsgefühl, diese überhitzte
Aeußerungsform einer neuen Frömmigkeit
, getreulich widerzuspiegeln. Die neue Romantik
erhoffte sich von den Marionetten einen
Ausdruck aller heimlichen Unterdrückungswollüste
der modernen Seele. So vornehm wurden
die Puppen wiedergeboren.

Aber siehe da, als man Ernst machte und
mit den alten Marionetten die neuen Marionettenstücke
spielen wollte, da ging es nicht.
Aller Ernst und alle Tragik zerbrach an der
sozusagen konstitutionellen Ironie der Puppen.
Es zeigte sich, daß Puppen, die von ihrer
eigenen Puppenhaftigkeit wissen, sich selbst
widerlegen.

Es ist das große Verdienst Paul Branns,
den künstlerischen Willen der Marionetten sogleich
klar erkannt zu haben. Er tat alsbald
die überflüssige Literatur ab und brachte zum
ersten Male wieder Puppenvorstellungen, die
eine sublime Vereinigung deralten volksmäßigen
Ueberieferung mit dem hohen künstlerischen
Ehrgeiz der Gegenwart enthielten.

Die Grundtatsache des Marionettenspieles ist
die Abwesenheit des animalischen Lebens auf
der Bühne. Schauspielkunst ist
Selbstdarstellung eines lebendigen,
beseelten Körpers. Die Marionette
hat kein Leben in sich, das darzustellen
wäre, und deshalb ist sie
niemals Schauspielerin. Sie prägt
kein animalisches Leben aus, sondern
sie stellt, mimisch genommen,
immer nur Geist dar, und zwar eine
sehr aktive Form von Geist, die
Ironie. Die Ironie ersetzt der
Puppenbühne das animalische Leben
, das der wirklichen Bühne der
lebendige Schauspieler liefert.

Rein tragische Wirkungen können
deshalb von der Marionettenbühne
nicht ausgehen, weil auf ihr
von vornherein keine Menschen
spielen, sondern Ironien von Menschen
, Verspottungen von Menschen
. Leid kann es auf der Marionettenbühne
nicht geben, sondern
nur Travestien von Leid. Wird
dieses konstitutionelle Ironisieren
der Puppe vom Autor nicht in
den künstlerischen Willen aufgenommen
, so ergeben sich unerträgliche
Dissonanzen. Jeder Punkt des
Marionettendramas, an dem der

MARIONETTEN

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