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DAS MARIONETTEN-THEATER MÜNCHNER KÜNSTLER
Der tiefe Eindruck, den das Puppenspiel der
Frankfurter Messe auf den Knaben Johann
Wolfgang Goethe machte, bescherte uns nicht
nur eine der schönsten Stellen im „Wilhelm
Meister", sondern auch das tiefste edelreifste
Werk der deutschen Literatur, den „Faust" . . .
Kleist hat eine Art Aesthetik des Puppenspiels
geschrieben, Bogumil Goltz in seinem „Buch
der Kindheit" den Marionetten ein besonders
liebevolles Kapitel geweiht. Storm hat den
Typus des niederdeutschen Puppenspielers verewigt
. Maeterlinck, Hofmannsthal und Schnitzler
haben das moderne Marionettenspiel begründet,
das im Gegensatz zu Poccis geschehnisreichen,
derb-realistischen Puppenspielen in die Abgründe
der Seele steigt und so der kleinen Szene
und der Puppe zum Charakter die Differenzierung
der Gefühle hinzugewinnt . . .
Keiner bleibt unberührt vom Zauber des
Marionettenspiels, das Märchenstimmung und
der Duft des Geheimnisses umwittern. Es ist
eine besondere Welt, die unbegrenzte Möglichkeiten
bietet. Das Groteske, das im Puppenspiel
liegt, schlägt jeden in seinen Bann.
Diese Gestalten aus Liliput können fliegen,
zum Himmel springen, in sich selbst verschwinden
, und aus ihren Gelenken schleudern
sie menschliche Bewegungen, stilisiert
zwar, aber anatomisch'
korrekt, und aus ihren
hölzernen Eingeweiden
scheint eine
menschliche Stimme
zu dringen. Dazu ist
ewige Grazie ihr Teil,
deren Existenz Kleist
aus der Unmöglichkeit
der Reflexion der
Puppe erklärt: „Wir
sehen, daß in dem
Maße, als in der organischen
Welt die Reflexion
dunkler und
schwächer wird, die
Grazie darin immer
strahlender und herrschender
hervortritt.
Doch so wie sich der
Durchschnitt zweier
Linien, auf der einen
Seite eines Punktes,
nach dem Durchgang
durch das Unendliche,
plötzlich wieder auf
der anderen Seite einfindet, oder das Bild des
Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche
entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor
uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis
gleichsam durch ein Unendliches gegangen
ist, die Grazie wieder ein; so daß sie zu
gleicher Zeit in demjenigen menschlichen Körperbau
am reinsten erscheint, der entweder gar
keines oder ein unendliches Bewußtsein hat,
d.h. in dem Gliedermann oder in dem Gott..."
Die Grazie der Marionette alten Schlags,
die Kleist im Auge hatte, beruht auf dem
„Reiz", wenn man das Wort im Sinne Les-
sings als „Schönheit in der Bewegung" deuten
will. Grazie der Erscheinung besaßen diese
alten Puppen, deren Epigonen uns heute noch
in aller Welt (besonders in dem marionettenfrohen
Mantua und in den kleinen Dörfern
und Märkten Oberbayerns) begegnen, gar nicht.
Ihre Häßlichkeit indessen ist geradezu ein
„Stimmungsmoment", als das sie auch Bogumil
Goltz erkannte und analysierte: „Mir erschienen
die Physiognomien der Puppen in
ihrer ganz fabelhaften Abscheulichkeit, als da
ist in ihren entsetzlichen Hakennasen, Glotzaugen
und grinsenden Mäulern so, ich weiß
eben nicht wie, interessant, poetisch, phantastisch
, unerhört — es paßt alles nicht — kurz,
so unmöglich und
eben in ihrem Exzeß
von Häßlichkeit so
übernatürlich, übermenschlich
, dämonisch
, spukhaft, also
so erhaben und wunderschön
, daß ich vor
einigen Jahren einen
originellen Förster
meiner Bekanntschaft
erst vollkommen verstand
, als er von einem
entsetzlich losschreienden
Steinesel
lachend sagte: So
ein Beest ist ordentlich
vor Häßlichkeit
schön."
In diesen beiden
Sätzen: dem Kleists
von der unbewußten
Grazie und dem Gol-
tzens von der durch
gesteigerte Charakteristik
erzeugten
Dekorative Kunst. XV. 10. Juli 1912
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