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I
RUDOLF JETTMAR
R. JETTMAR
Kinder, einzeln und in Scharen, einmal ruhig,
in schwerer Laßheit stehend oder gelagert,
ein andermal leicht schwebend oder gemessen
schreitend, dann wieder wild bewegt, im Kampf
miteinander oder gegen irgendwelche Gewalten
begriffen, in allen erdenklichen Verkürzungen
zu unentwirrbaren Knäueln geballt,
vom Sturm durcheinander gewirbelt, nackt oder
in faltenreiche Gewänder gehüllt, von ihnen
umwallt. Manchmal hebt ein mächtiges Flügelpaar
eine Gestalt über das Irdische empor.
Immer sind die Modelle überwunden, verallgemeinert
, ins Uebermenschliche gesteigert.
Die bevorzugten Gesichtszüge sind nicht immer
klassisch edel. Bei einem Herakles etwa ist
keinerlei Rücksicht auf die durch die antike
Kunst überlieferten Typen genommen. Porträte
finden sich (dem Schreiber dieser Zeilen
ist bloß ein jugendliches Selbstbildnis bekannt
) unter Jettmars Arbeiten so gut wie
nicht. Das Kostüm ist das der Antike oder
der Bibel: ein großes Stück Tuch, ein faltiger
Mantel, niemals ein zurecht geschneidertes,
BERGSEE. RADIERUNG (1897)
der menschlichen Gestalt angepaßtes Gewandstück
. Eine große Rolle spielt das Roß, aber
eines, das vom „Urpferd" im Parthenongiebel
abzustammen scheint. Nicht selten ist es zum
Hippogryphen vergöttlicht. Häufig begegnen
Fabeltiere; sie zu ersinnen und überzeugend
zu gestalten, ist für den Künstler offenbar eine
große Lust. Zu seinen Lieblingstieren gehören
der Adler und die Schlange. Einen
wichtigen Platz nimmt unter und auf Jettmars
Werken die Landschaft ein. Schroffe, kahle
Felswände, düster und drohend emporgetürmt,
unheimliche Weiher, spiegelglatt daliegend, die
ruhige Meeresfläche liebt er besonders. Eine
verhältnismäßig untergeordnete Rolle fällt dem
Pflanzenwuchs zu. Dagegen treten die Wolken
auffällig hervor. Ihren Spiegelbildern in Jettmars
Kunst merkt man die Bewunderung an,
die er den Urbildern am Himmel zollt. Jettmars
Wolken suchen in Form und Beleuchtung
ihresgleichen. Oft kommen Gebäude vor,
eine Mühle, eine Kirche, ein Felsenschloß,
ein Felsennest, starre Mauern, trotzige Türme
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