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stand und Empfindsamkeit, nicht aber auch über
vollwertige Gestaltungskraft verfügen und diese
ziehen insofern Nutzen aus dem noch wirren
und ungeklärten Zustand der Zeit, als sie, unbeschwert
von dem Verlangen des Vollkünstlers
nach Vollendung und absoluter Bewältigung
, ihre Velleitäten, für deren richtige Bewertung
noch kein Maßstab vorliegt, in den
Vordergrund zu schieben Gelegenheit finden.
Auch gelingt es ihnen kraft eines dogmatischen
Eifers, den man mit einseitiger Intellek-
tualität nicht selten gepaart sieht, fast immer,
demharrenden und wenig urteilskräftigen Publikum
ihre Notstandsprodukte als Erfüllungen
aufzureden. Sie vorab sind verantwortlich
für das Burleske und Karikaturenhafte, was
man zu Anfang mancher, an sich vollauf berechtigten
Bewegung vorfindet. Sie überspitzen
nur zu leicht, wie Shakespeare sich ausgedrückt
haben würde, die Spitzen und Verstand
, Unverstand, Unvermögen, ja direkter
Humbug gehen bei ihnen fortwährend ineinander
über. Man kann ihnen
gegenüber nicht kritisch genug sein
und wie die Erfahrung lehrt, werden
sie ja zumeist auch wieder
im weiteren Fortgang der Entwicklung
völlig ausgeschaltet und fallen
der in einzelnen Fällen nicht einmal
ganz berechtigten Vergessenheit an-
heim. Ihr Schaden liegt darin, daß
sie etwas Verführerisches für alle
schwachen und von Großmannssucht
getriebenen Geister besitzen;
man nimmt nur zu leicht die Forcierung
für kraftvolles Wollen und
verwechselt die Verzerrung mit der
naturgemäßen Erweiterung. Auch
sind sie es, die dem langsam auf
der Tradition aufsteigenden und die
brauchbaren Elemente des Neuen
sich organisch und mit richtigem
Instinkt assimilierenden Genie, das
nicht wie jene bei einem Dualismus
von Form und Inhalt sich bescheidet
, zunächst immer den Weg
verlegen. Der Kubismus, wie auch
andere moderne Bewegungen bieten
hinreichend Gelegenheit, solche Erscheinungen
nach allen Richtungen
hin zu studieren. Die Verwirrung
ist da groß und es heißt gut aufpassen
, um das Gute ausfindig zu
machen, was sich in ihnen bemerkbar
macht. Nicht zum wenigsten
Schuld an dem Mißstand trägt da
heute auch eine ins Ungeheuerliche
wachsende Kunstliteratur. Literaten,
denen jedes innere Verhältnis zur bildenden
Kunst abgeht, Maler, die vielleicht literarische,
aber keine Begabung zu der Kunstgattung haben,
der zu dienen sie vorgeben, betriebsame Kunstphilologen
, sei es nun, daß diese sich auf unseren
Hochschulen vor einem Kreis naiver Hörer interessant
zu machen suchen, oder privatim der
Oeffentlichkeit ihr Zeitgefühl zu beweisen bestrebt
sind, alles redet und schreibt über moderne
und modernste Kunst, und da nicht geleugnet
werden kann, daß unter den Aeußerun-
gen auch mancher geistreiche Passus zu finden
ist und als im abstrakt Gedanklichen sich
bewegend, für den Hörer oder Leser etwas
Bestrickendes an sich haben mag, so tragen sie,
so paradox das klingen mag, eher zu einerweiteren
Verwirrung der Situation bei, als daß sie sie
klären. Denn nicht jedes Problem, das sich gedanklich
entwickeln läßt, taugt zugleich auch für
die Uebertragung in die Tätigkeit der bildenden
Kunst und nicht jede ins Nebelhafte getriebene
subjektive Kundgebung, die sich mit
GASTON LA TOUCHE
BEI DER TOILETTE
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