Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 28. Band.1913
Seite: 457
(PDF, 180 MB)
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WILLI GEIGER

Dem Haupt- und Kardinalsatz der Milieuhistoriker
, daß die Umwelt den Menschen
mache, darf man nur eine beschränkte Bedeutung
zubilligen. Er versagt überall da, wo ein
Schaffender schon beim ersten Schritt in die
Oeffentlichkeit in schroffen Gegensatz tritt zu
den Zuständlichkeiten seiner Heimat, seines
Vaterhauses, seiner Lehrmeister, seiner Mitbürger
, seiner Altersgenossen. Er bleibt immer
unanwendbar auf geniale, schöpferische Naturen
, er gilt nur für die breite Mittelschicht
und vielleicht für jene relativ kleinen Geister,
die sich Führer dünken und doch nichts anderes
zuwege bringen, als Ideen, die Eigentum
ganzer Generationen und Nationen sind, zu
Prinzipien zu organisieren.

Nun tritt aber jeder schöpferische Geist —
denn das ist eben das Wesentliche des Schöpfertums
— in einigen Gegensatz zu bestehenden
Verhältnissen, zu überkommenen Werten,
zu eingebürgerten Ideen, zu gebräuchlichen
Ausdrucksformen. Ich will damit nicht sagen,
daß die Schöpferkraft in dem Grade großartiger
ist, als sich der Schöpfer entschiedener
von der Umwelt, aus der er hervorgegangen
ist, loszureißen weiß. Eine gewisse Tradition,
ein gewisses zärtliches Festhalten an Vererbtem
, jung Erlebtem, Anerzogenem gibt erst die
Garantie einer persönlichen Kultur, denn im
Gegensatz zum Genie ist Kultur nicht eine
Augenblicksschöpfung, die der Wille des Weltgeistes
durch ein Machtgebot
ins Dasein zaubert,
sondern an der Kultur
bauen Generationen; das
Genie aber entspringt einer
momentanen Weltschicksalslaune
. Und so
mag es sich denn ereignen
, daß Genie und Kultur
nicht das mindeste gemeinsam
haben. Wo indessen
wie bei Johann
Wolfgang Goethe die
höchste Potenz genialer
Menschlichkeit undgenia-
ler Künstlerschaft auf der
Folie einer außerordentlich
hochentwickelten Kultur
in die Erscheinung tritt,
da darf man sich eines der
Höhepunkte der Menschheit
in glücklicher Trunkenheit
rühmen . . .

WILLI GEIGER □ „EINE SAITE
GERISSEN" (TUSCHZEICHNUNG
AUS „SEELE". 1902)

Willi Geiger weist diese beiden Merkmale
mit erstaunlicher Prägnanz auf: ein Losreißen,
das seiner genialischen Leidenschaft Zeuge ist,
und ein Ausschöpfen aller Kulturmomente, die
ihm seine Zeit und das Einleben in vergangene
Perioden darbietet. Schon mit seinem ersten
Werk „Seele", einer Folge von 20 Tuschzeichnungen
, ist er in scharfen Gegensatz zu seiner
Umwelt getreten. Diese Blätter suchen sehr abstrakte
Dinge zu intensivem bildmäßigen Ausdruck
zu bringen, nicht durch Uebertragung
auf reale Erscheinungen, sondern durch einen
sehr aparten und Geiger eigentümlichen Stil,
dessen Art mehr auf psychische und intellektuelle
Ausdrucksmittel als auf Zuständlichkeiten
gestellt ist. Wie kam Geiger zu diesem
Ventil seiner Kunst, wie konnte er für das,
was ihn bewegte und nach künstlerischem Ausdruck
in ihm rang, gerade diese Form finden?

Geiger stammt aus einer deutschen Kleinstadt
von anheimelnder bayerischer Gotik: aus
Landshut. Ein Bürgerhaus voll ausgezeichneter,
tüchtiger Menschen, deren Sinn aber durchaus
auf die praktischen Realitäten des Lebens gerichtet
ist, das ist seine Heimat, seiner Jugend
Stätte. In der Landshuter Realschule fand Geigers
künstlerische Phantasie wohl auch keine
Nahrung, die ihn zu einem so exzeptionellen
Ausdruck hätte aufreizen können. Auch nicht
am Münchner Polytechnikum und ander Münchner
Kunstgewerbeschule, wo er studierte, um

künftig als Zeichenlehrer
in irgendeiner bayerischen
Provinzialstadt talentlosen
Mittelschülern
die Geheimnisse quadratischer
und runder Ornamente
zu enthüllen . . .
Noch während seiner Studienzeit
auf der Kunstgewerbeschule
indessen war
es, daß die ersten seiner
genialen Zeichnungen entstanden
. Von Kindheitseindrücken
, von Landschafts
- oder Schuleinflüssen
konnte bei ihrer
Konzeption keine Rede
sein. Max Klingers graphisches
Werk, das damals
im Mittelpunkt der
künstlerischen Diskussion
stand, mochte vielleicht
Geigers Phantasie

I

Dekorative Kunst. XVI. 10. Juli 1913

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