Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 28. Band.1913
Seite: 559
(PDF, 180 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_28_1913/0657
TANZ, BALLETT UND WIR

(GELEGENTLICH DES RUSSISCHEN BALLETTS)

In unserem Verhältnis zur Tanzkunst ist in
den letzten Zeiten ein auffallender Wechsel
eingetreten. Wir sind passiver geworden als
Tänzer und anspruchsvoller, wenn ein anderer
sich anheischig macht, uns einen Kunsttanz
zu zeigen. Der sogenannte Gesellschaftstanz
geht der Entartung entgegen. Der Wiener Walzer
wird schlecht getanzt, und niemand nimmt sich
mehr die Mühe, die Pas und Figuren der Fran-
gaise richtig zu erlernen. Für die Mehrzahl
der Tanzenden ist der Tanz nicht mehr Selbstzweck
, sondern ein Mittel zum Zweck. Und
als solches dient in höherem Grade, was als
exotischer Import mit sensationellem Anreiz zu
uns kam, namentlich aus Südamerika und aus
den Vereinigten Staaten: Grisly-Tanz, Cake-
Walk, One-Step, Tango . . .

Eine sympathischere Menschengruppe sieht
im Tanz ästhetischen Sport. In Gedanken an
ein Kultur-Arkadien mit Nackt- oder Halbnacktkultur
verleihen sie durch sportlich-ästhetische
Uebung der Tanzkunst ihrem Körper Eurhyth-
mie. Es sind das jene Leute, die von Isadora
Duncan und von den Hellerauer
Tanz-Prinzipien
des Jaques Dalcroze entflammt
sind. Auch ihnen
ist der Tanz nicht mehr
Selbstzweck. Aber sie erblicken
in ihm auch nicht
wie jene Dumpfen eine
soziale Funktion vom Bai
pare-Niveau, sondern der
Tanz dient ihnen zur Körperkultur
. Es ist ein sehr
lobenswerter Drang in unserer
Zeit, das schöne,
freie Spiel der Muskeln
und Glieder wiederzufinden
, die Herrschaft über
den eigenen Körper wiederzugewinnen
, die im
Altertum, das uns die
Statuen des jugendlichen
Epheben und des Disko-
bol überliefert hat, und
auch in der besten Zeit
der Renaissance selbstverständlich
war. Diese
Eurhythmie des Körpers,
die schöne Art zu schreiten
, die musikalische Ge- wera fokina

Sähet ihr je die menschliche Natur
lebendiger als im seelenvollen Tanz?

Herder

schmeidigkeit der Glieder, hofft man durch die
neue Auffassung und Art der Tanzkunst zu erreichen
. Dieser Tanz ist also nicht so sehr
Kunstwerk als Körperkultur oder, um deutlich
zu sein, eine geschmackvolle Leichtathletik.

Der Tanz als Kunstwerk aber ist beim
Amateur heute kaum mehr anzutreffen. Es
gibt keine Grazien mehr, deren Grazie natürlich
wäre. Als Botticelli sein berühmtes
„Primavera"-Bild malte, da mußte er nicht
lange auf die Suche gehen, um Modelle für
den leichtbeschwingten, unendlich feinen und
anmutigen Reigen der Drei im Vordergrunde zu
finden. Ob heute die Hellerauer Zöglinge
schon imstande sind, aus Eigenem eine Gruppe,
so klassischer Anmut voll, zu stellen? Es
gibt auch nicht mehr jene Solopaare, wie wir
sie auf Francois Clouets Bild, das den Ball des
Duc de Joyeuse darstellt, antreffen: ein tanzendes
Paar, dem der Tanz eine Art gottesdienstlicher
Handlung ist, ein zeremoniöser
Ritus, bei dem kein Detail vergessen werden
darf. Denn wir leben im Zeitalter der Nacktkultur
, der Leichtathletik,
des Grisly-Bärentanzes.

Freilich auch der großen
Tanzkünstler. Es gibt
in ihrer Kunst Vertreter
aller Temperamente. Isadora
Duncan — die Melancholie
, Cleo de Merode
— das Phlegma, Saharet
—die Sanguinische,Guer-
rero — die Cholerische.
Jede hat ihre Nuance.
Manche beherrschen deren
auch mehrere — Grete
Wiesenthal, Clotilde von
Derp und Rita Sacchetto.
Und ein Tänzer gar hat
sich tanzend jenem dionysischen
Kultus, jener
philosophischen Ausdeutung
gewisser Kultursymbole
, die Nietzsche als
ein neues Kulturideal vorschwebte
, genähert: Alexander
Sacharoff. Wenn
Bierbaum seinerzeit von
der Saharet sagte: „So
tanzen wie Madame, heißt
assyrischer tanz Nietzsche symbolisieren",

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