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WERA FOKINA
ASSYRISCHER TANZ
so war das natürlich ein liebenswürdig ironischer
Scherz. Bei Sacharoff aber hat dieses gewagte
Wort beinahe Recht. Namentlich wenn Sacharoff
seine schweren religiösen Tänze zu Palästrina-
scher Orgelmusik tanzt, wird einem ganz sonderbar
zumute: man weiß nicht — ist das
Blasphemie, ist es religiöser Wahnsinn oder
drängt sich in diesen Rhythmen, in diesen
Zuckungen eines an seine Kunst ganz hingegebenen
Körpers der primitivste Ausdruck
einer Nietzsche-gemäßen Religion in die Erscheinung
? Herder, der nicht im Geruch des
Revolutionärs stehen kann, dessen besonnene,
gelehrte Männlichkeit vielmehr stets der natürlichen
Entwicklung und biedermännischen Anschauung
der Dinge das Wort redete, rief einmal
entzückt aus, daß der seelenvolle Tanz
die menschliche Natur am lebendigsten zeige.
Ich erwähne das, um mich gegen den Vorwurf
zu schützen, ich sähe in den verzückten Sprüngen
eines aparten Tänzers zuviel. Im Gegenteil
glaube ich sagen zu dürfen: In jedem Tanz
liegt etwas Kultartiges, wenn es ein echter
Tanz ist. (Im Bärentanz freilich nur ein sehr
inferiorer Kult der Bestialität.) Aus religiösem
Kult ist der Tanz entsprungen, und jene furiosen
Bacchantinnen, die tanzend ihrem Gott
dienten, bis sie in einer selig-sinnlichen Trunkenheit
zu Boden taumelten, sind uns so gut ein
Symbol wie jene seelisch und geistig einfach
konstruierten Bauern und Bäuerinnen in der
Eifel, die in ihren Springprozessionen die Motive
des Tanzes und der Religion vermischen ...
*
Auf solch spekulativen Wegen dringen wir
immer tiefer ins Mysterium, wo die Grenzen
von Sinnlichem und Uebersinnlichem verwischt
sind. Wir erkennen, daß der Tanz wohl noch
in höherem Grade als die Musik, auf alle Fälle
viel erregender als das Wort, uns an die Urgründe
führt, in denen der Sinn des Lebens
kauert. Indessen wollen wir uns an die äußere
Erscheinung des Tanzes halten. Wir wollen
nicht die Psychologie, sondern die Aesthetik
des Tanzes erkennen. Die Eindrücke, die
uns die berühmte Petersburger Ballett-Truppe
vermittelte, waren vorwiegend ästhetischer Natur
. Das Psychologische mußte sich hier
separieren, es sei denn, daß man von einer
Massen-Psychologie reden wollte. Dann aber
müßte sich beim Nachdenken ergeben, daß das,
was man für Massen-Psychologie ansah, nichts
anderes war, als nationale Gemeinsamkeit. Bei
jener kurzweg „Russisches Ballett" genannten
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