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durch langjährige Gedankenarbeit näher zu
kommen trachteten. Seine Ergebnisse schließen
folgerichtig an Winkelmann, Rafael Mengs,
Feuerbach, Ruskin, Sizeranne, an Meissoniers
und Böcklins theoretische Betrachtungen. Doch
im Gegensatz zu diesen Männern, die behaupteten
, ein Kriterium zu besitzen, wirft Wolkoff
in seinem Lebenswerk die Frage auf, ob es
überhaupt ein derartiges Kriterium geben kann
und ob jemand im Gebiet der Kunst über
den persönlichen Geschmack hinauszukommen
vermag.
Anatole France hat einmal gesagt, daß derjenige
ein guter Kritiker sei, der versteht, inmitten
von Meisterwerken der Kunst die Empfindungen
seiner Seele zu beschreiben. Diesem
Verlangen setzt die moderne Kritik das
Gebot entgegen, der Schriftsteller solle nicht
nur seine persönliche Meinung über irgend ein
Werk niederlegen, sondern vor allem die Richtigkeit
dieser Meinung begründen. Es handelt
sich nicht um Empfindungen der Seele, wenn
sie noch so interessant und schön geschrieben
sind; es handelt sich um Begriffe, um nackte
Werte, nicht verschleiert von den fadenscheinigen
Phrasen aus dem Wörterbuch bisheriger
Aestheten.
Als erstes Erfordernis für den Schaffenden
wie für den Beurteilenden verlangt Wolkoff
das künstlerisch sehende Auge, das ohne genaue
Erinnerungsfähigkeit des Gesichts unmöglich
ist. Um die Natur nachahmen und
nachschaffen zu können, muß das Auge sehen
und sich Rechenschaft von dem geben, was es
gesehen hat. In der erhöhten Möglichkeit
dieser Rechenschaft beruht die erhöhte Bedeutung
des Künstlers. Aber ein Auge, das
weder dazu geschaffen noch dazu erzogen ist,
die Natur wahrzunehmen und sich des Wahrgenommenen
zu erinnern, ist nicht befähigt, ein
Kunstwerk auf sein Verhältnis zur Natur zu
prüfen und sein Inhaber wird als Schriftsteller
immer nur Literatur, niemals ein sachlich begründetes
Urteil vermitteln.
Bei den trigonometrischen Aufnahmen eines
Terrains erscheint immer ein sogenannt „fehlerzeigendes
Dreieck" auf der Karte, indem
sich ein aufzunehmender Punkt noch frei bewegt
. An dieses Dreieck erinnert mich das an
den Kritiker gestellte Verlangen, genau und
richtig zu sehen, um genau und richtig zu urteilen
. Wo sind zwei Menschen, die vollständig
gleich sehen? Wolkoff hat ganz recht, wenn
er hier das fehlerzeigende Dreieck, das Ungefähr
in der Kritik erkennt und es immer
kleiner, immer enger zusammenziehen will
durch die Ausbildung des Auges und ein gestärktes
Vermögen, sich des Gesehenen zu er-
BRUNO PAUL HAUS DER ROSE-LIVINGSTONE-
STIFTUNG □ WAND BRUNN EN
innern, ohne Gefühls- und Geschmackswerte
beizumischen. Nun sehen Maler und Schriftsteller
auf ganz verschiedene Weise. Wo der
eine nach eigenem Gutdünken den günstigsten
Moment wählt, eine Form oder eine Farbe
festzuhalten, muß der andere das Wort finden,
dessen Gehalt am deutlichsten und kürzesten
die Situation charakterisiert. In diesem Abstand
wird sich immer jenes Ungefähr breit
machen, das Kunst und Aesthetik auseinander
hält. Für den Philosophen, den Dichter, den
Kritiker sind Menschen und Dinge im Raum,
für den Maler müssen sie sich in die Fläche
einordnen und treten in ein bestimmtes Wertverhältnis
zu dem Hintergrund und der allgemeinen
Beleuchtung, das jenen gleichgültig
Dekorative Kunst. XVIII. 3. Dezember 1914
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