Freiburger historische Bestände - digital

KARL CASPAR

ELIAS UND DER ENGEL (1914)

KARL CASPAR

Wenn sich der Geist und der jeweils reifere
Sinn der Menschheit immer in einer gewissen
Gegenbewegung zu der äußeren Zeitform
befindet, wie das feinere Gefühl für die
geschichtlichen Kräfte lehrt, so treibt uns auch
heute unsere tiefere Sehnsucht, nach jenen
Geistern und jenen künstlerischen Formen unter
uns zu suchen, die tiefer gründen als in der
bloßen Gegenwart und die in der Veränderung
Dauer bilden und verheißen. Noch eben rang
ein junges Geschlecht für einen gemeinsamen
Ausdruck schwer gegen Spott und Unwillen
und schon treten einige wenige Persönlichkeiten
als Träger der Seele dieser Zeit gehäufter
Schicksale heraus. Wie lange wird es
dauern, dann sind die neuen stilistischen Schlagworte
verbraucht und wenige Namen wird man
ebenbürtig dem Ruhm der alten deutschen
Kunst anreihen. In nur wenigen Werken wird
man die ganze Tiefe der Marter dieser Zeit,
die Höhe der Empfängnis des Überpersönlichen,

die Innigkeit der Berührung mit dem Göttlichen
so voll und neu erfahren spüren, daß
wir die Schwere der ganzen Menschheit und
ihrer Geschichte in uns unvermindert fortleben
empfinden und in diesen Werken dafür die
Zeugnisse sehen.

In der programmatischen Fortschrittlichkeit
hat man sehr oft das Gefühl, daß das Künstler-
tum allgemein den Sinn des tieferen Kampfes
der Form verliert, daß die Form trotz der
Besinnung auf ihren eigensten Ausdruck ein
immer leichteres Spiel des Geschmacks und
Verstandes werde. Wollte man einmal die neuen
Werke mitten unter alte gotische Tafeln hängen,
so würde man erkennen, wieviel zwar von der
perspektivischen und naturalistischen Einseitigkeit
, in der sich die Kunst der letzten Jahrhunderte
entwickelt hat und wodurch sie mit
dem Verlust der Fläche an Geistigkeit und
heftigem Charakter verloren hat, bereits überwunden
ist, wie wenige aber von den neuen

Die Kunst für Alle. XXXIV. 5/10. Februar 191g

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