http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_39_1919/0374
lichkeit gegangen, und was nun entsteht, ist
nicht Literatur mit veränderten Mitteln, sondern
mit dem Herzblut des Künstlers genährte
Form, malerische Vision. Unerschöpflich sprüht
nun des Graphikers Phantasie. Der Mystiker,
der zwischen Diesseits und Jenseits keine scharfe
Grenze zieht, der tummelt sich mit frohem Behagen
im Reiche des Spuks. Seltsame Wesen
tauchen auf, von Unheimlichkeit, vom Schauer
ungelöster Rätsel umwittert. Kobolde und Teufel
und allerlei lichtscheues Volk geistert durch
die Nacht. Im ungewissen Mondlicht tragen sich
gespenstische Dinge zu. Ungesühnte Verbrechen
gehen um, und zwischen Leichensteinen
klappert schaurig der Tod mit Schädeln und
Knochen. Und wir, die wir als echte Materialisten
so gern die geheimnisvollen Vorgänge
der Finsternis belachen, wir werden vor Thyl-
manns Blättern nachdenklich gestimmt. Die
Welt der Geister zieht uns magisch in ihren
Bann, denn ein Hellseher ist's, der sie beschwört,
ein Künstler, der nachsinnt über der Erscheinungen
verborgenen Sinn. Er gibt seinen Gestalten
soviel von seinem Glauben ans Übersinnliche
mit, daß sie zu überzeugendem Leben
erwachen. Wir beginnen das Gespenstische und
Spukhafte in diesen Blättern zu fühlen, wir
werden uns plötzlich der Fülle der Rätsel bewußt
, die zwischen Himmel und Erde noch
immer der Lösung harren. Aber der Künstler
schreckt uns nicht mit hoffnungslosem Grauen,
denn seine Menschlichkeit hat auch für die arme
verdammte Seele, die ruhelos zwischen Traum
und Leben irrt, hat auch für die diabolischen
Schatten der Nacht ein versöhnliches Herz.
Wohltuend wird das Gruselige und Teuflische
vom Grotesken und Drolligen gemildert. Ein
leiser ironischer Humor klingt durch die Welt
des Spuks; Tragik und Komik berühren sich
und schlichten in ihrem Beieinander jede allzu
grelle Dissonanz.
Unter dem Druck des Krieges schafft Thyl-
mann seine letzten und stärksten Blätter. Das
ungeheure Ereignis rüttelt ihn mächtig auf, seine
Kräfte flammen zu äußerster Anstrengung empor
, als ahnten sie, daß nur noch kurze Zeit
zum Wirken sei. In den spärlichen Mußestunden
des militärischen Dienstes verlangt ein unbändiger
Schaffensdrang nach Betätigung. Die
Erregung des Graphikers, die der Krieg entfachte
, will sich in harter Arbeit beruhigen. Da
ist es verständlich, daß er den Holzschnitt bevorzugt
, der schon im Handwerklichen Anstrengung
erfordert, der schon durch seine Technik,
durch die manuellen Schwierigkeiten, die er
dem Künstler entgegenstellt, Einfachheit und
straffe Konzentration verlangt. Für das die
Holzplatte aufpflügende Messer gibt es keine
Unbestimmtheit, kein tastendes Versuchen, sondern
nur ein klares Ja oder Nein. Was der
Künstler uns geben will, was ergreifen oder abstoßen
, erschrecken und beruhigen soll, das muß
mit wenigen aber umso ausdrucksvolleren
Linien und Flecken gegeben sein. Der letzte
Rest von Befangenheit, alles Kleinliche und
Gebundene fällt von des Künstlers Seele ab,
und immer bewußter setzt sich der Wille nach
Ausdruck und Einfachheit durch. Wundervolle
Einzelblätter reifen nun aus. In den Landschaften
setzt er fort, was er 1913 in der Märzserie
begann: die Bäume, seine Brüder, feiert
er in immer neuen Blättern. Sie ringen sich
aus der Erde dem Himmel zu, sie zittern von
Kraft und Lebendigkeit, sie sind trunken von
Wachstum und den steigenden Säften des
Frühlings. Nun gestaltet er die lieben alten
Stoffe, die noch jeden ernsten deutschen Künstler
beschäftigen: Die „Ruhe auf der Flucht",
„ChristiTaufe", „Johannes auf Patmos". Nun entsteht
die rührende „Heimsuchung" (Abb. S.333),
die wie in einem kristallenen Spiegel des Malers
tiefe Frömmigkeit und Reinheit offenbart. Im
Sonnenstrahl sitzt in sich versunken die junge
Mutter. Die schmalen Hände liegen über dem
schwellenden Leib. Sie lauscht in sich hinein,
ganz hingenommen von dem Geheimnis ihres
Leibes. Sie sieht nicht Mariens holde Gestalt,
sie hört nicht, daß die Pforte ging . . . Ihr
Büsche und Bäume, stört sie nicht! Sie träumt
ihren süßesten Traum ... In der „Heilung des
Aussätzigen" redet er mit der dröhnenden
Stimme des Propheten (Abb. S. 335). Von ungeheurem
Ausdruck erfüllt ist die Geste des
Herrn, der mit gewaltigem Griff den zusammengesunkenen
Kranken packt. Nun rinnt die
göttliche Kraft in den von Schwären zerrissenen
Leib; schon strahlt aus dem knochigen Antlitz
die gläubige Verzückung, die sieghaft alle körperlichen
Leiden überwindet. Da ist kein
Strich, der leer und äußerlich wäre, keine
Linie, die im Dekorativen haften bliebe — alles
ist von innen her durchglutet, geladen mit der
Inbrunst des Schaffenden, zuckend von der
Ekstase des hingerissenen Herzens. Der Künstler
steht auf der Höhe seines Könnens. Herrscherlich
beginnt er mit den Formen des Daseins
zu walten; die Natur, die er mit liebender
Seele umfängt, ist ihm nicht das Ziel der Gestaltung
, sondern ein wunderbar wandlungsfähiges
Instrument, dem er geheimnisvolle, verborgene
Klänge zu entlocken weiß. Noch einmal
regt ihn ein Dichter mächtig an und die
letzten Illustrationen entstehen: Die Holzschnitte
zum „Zauberer" von Nikolai Gogol.
In dem ukrainischen Dichter fand Thylmann
wieder einen Geistesverwandten, dessen Werk
332
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_39_1919/0374