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fen. Beine macht man besser zu lang als zu
kurz, denn eine Kleinigkeit zu lang wirkt eher
schöner, aber eine Kleinigkeit zu kurz macht
den ganzen Körper schwer und plump. Männliche
Schultern muß man lieber zu breit nehmen
als zu schmal, d. h. breiter als sie am
Modell normal sind, und den Kopf eher länglich
als rund. Weibliche Schultern dagegen
dürfen etwas schmäler sein als in Wirklichkeit.
Gott hat dem Mann breite Schultern gegeben
zum Kampf und zur Arbeit, dem Weib dagegen
breite Hüften, um uns im Schöße zu tragen.
Füße soll man eher zu klein als zu groß bilden
, denn an schönen Modellen und in der
Antike beobachtet man das auch.' — Er wiederholte
, der König müsse sich Modelle aus
Griechenland kommen lassen und er wolle es
BERNHARD PÖPPELMANN JUNGER MANN
Große Kunstausstellung Düsseldorf 1Q20
nicht vergessen, diesen Passus in seine Denkschrift
einzusetzen. Außerdem müßten die
Vorstände der Akademie Vortragskurse für die
Schüler einrichten, und zwar verschiedene Lehrgänge
für die einzelnen Klassen. Drei Klassen
müßten mindestens vorhanden sein. Dann kam
er auf die Studienblätter zurück, die vor ihm
lagen, und fuhr fort: „Für die Ponderation der
Figuren habe ich mir eine Regel ausprobiert,
die ich für außerordentlich wichtig halte, weil
sie auf dem natürlichen inneren Gleichgewicht
des menschlichen Körpers beruht. Der Mensch
legt sein Gewicht, wenn es nicht gerade ein
Greis ist, meist nur auf das eine Bein, das
Standbein, und der Künstler muß darauf achten,
daß die Körperlast auf diesem basiert ist. Die
dem Standbein entsprechende Schulter muß
naturgemäß tiefer liegen als die andere und
wenn ein Arm erhoben ist, wird es stets der
dem Standbein entgegengesetzte sein. Sonst
ist der Natur Gewalt angetan und das wird
stets ungraziös wirken. Beim Studium der
Antike habe ich das bestätigt gefunden.'
Berninis Qualitäts-Urteil fällt vielfach ganz
anders aus, als man nach seinen Werken erwarten
sollte*). Er verehrt Raffael als den
unbedingten Klassiker: „Ein Raffael wirkt stets
wie aus einem Guß, während alle anderen Bilder
unausgeglichene Partien aufweisen. Raffael
besitzt die wahre Zeichnung, komponiert vorzüglich
, hat Anmut und Takt, klassische Gewandung
und fehlerlose perspektivische Figurenverteilung
. Kein anderer Meister hat das alles
vereinigt. Richtig ist ja, daß er den großen
malerischen Vortrag der Lombarden nicht besessen
hat, aber dafür fehlte es diesen an
Proportion, Zeichnung und Haltung. Daher
hat Poussin, der größte und gelehrteste Maler
aller Zeiten, zuerst nach Tizian gearbeitet.
Aber nur eine Zeitlang, dann hat er sich Raffael
angeschlossen und somit bewiesen, daß er
Raffael höher schätzt als alle anderen." Michelangelo
ist ihm als Plastiker zu anatomisch:
„Er war ein hochbedeutender Künstler, ein
großer Bildhauer und Architekt, aber immerhin
sind seine Arbeiten weniger wohlgefällig
als künstlerisch. In diesem Punkt kann er
sich nicht mit der Antike messen. Er hat sich
zu eng an die Anatomie gehalten, wie ein
Chirurg etwa, und aus diesem Grunde hat auch
Annibale Carracci, dieses grande cervellone,
seinen Christus in der Minerva so schlecht
gemacht."
In der Architektur stellt er das Pantheon
höher als St. Peter „denn es gibt keine voll-
*) Man vergleiche zu dieser Frage: E. Panofsky, Die Scala
Regia im Vatikan und die Kunstanschauungen Berninis. Jahrb.
d. Preuß. Kunstsammlungen. Bd. 40. Heft IV. 191g.
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