Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 43. Band.1921
Seite: 52
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gleichen oder wenigstens ähnliche sind. Auf
diesen besonderen Fall exemplifiziert, kann man
sich also den Hergang etwa so vorstellen, daß
der Hang zum Träumen, zur Phantastik in
jeder Form und zum Fabulieren auf dieser Basis
in Welti wie in Wirsching von Haus aus dagewesen
ist. Versuche, solche Träume und Vorstellungen
zu gestalten, müssen aber, wenn wir
noch die ungewöhnlich stark ausgeprägte deutsche
Wesensart der beiden als wichtigen Faktor
mit in Rechnung setzen, naturnotwendig zu Ergebnissen
führen, die formal und stilistisch einander
ähnlich sind. Denn ein alter Erfahrungssatz
sagt uns ja, daß gleiche Ursachen gleiche
Wirkungen haben. Hier hätten wir also, wenigstens
in den Grundzügen, die einfache Lösung
eines scheinbar sehr verwickelten und verwirrenden
Problems.

Wir wissen nun freilich, daß diese Art erzählender
und philosophierender Kunst zu Zeiten
des Impressionismus, der keinen Inhalt duldete,
sich ebenso in Acht und Bann befunden hat,
wie sie es heute, unter der Herrschaft des Expressionismus
, aus anderen Gründen immer noch
ist. Sie wäre also eigentlich recht- und heimatlos
. Aber die Zahl derer, die mit dem Pinsel
fabuliert, illustriert und Träume erzählt haben,
ist in Deutschland zu allen Zeiten sehr groß
gewesen, und man findet die allerbesten Namen
in ihren Reihen. Da muß also die Theorie
wieder einmal vor der Praxis kapitulieren; denn
die lebendig-warme Gegenwart dieser Kunst,
in deren Bereich es einem wohl ums Herz
wird, ohne daß man diese Empfindung mit einem
Verzicht auf malerische Werte zu erkaufen nötig
hätte, macht alles zu nichte, was vom Standpunkt
irgendeiner Richtung dagegen gesagt
werden könnte. Diese Kunst beweist ihr Recht
einfach damit, daß sie da ist, und sie überläßt
es späteren Historikern, den Platz ausfindig zu
machen, an den sie hingehört. Einstweilen gehört
sie dem Leben und dem Genuß aus unmittelbarster
Gegenwart. Und da solche Kunst
immer in sehr hohem Grade zeitlos ist, so werden
auch kommende Generationen kaum einen
wesentlich anderen Standpunkt gegen sie einnehmen
können.

Otto Wirsching ist 1889 zu Nürnberg geboren
. (Es bleibt jedem unbenommen, auch diesem
Umstand Bedeutung zuzuerkennen, wenn
es sich darum handelt, die Ursachen für Wir-
schings Sonderart aufzudecken.) Er studierte
an der dortigen Kunstgewerbeschule drei Jahre
lang unter der Anleitung des phantasiebegabten
Bek-Gran (wieder ein Umstand von Wichtigkeit
), bezog 1907 die Münchner Kunstakademie
, arbeitete 1909—10 in Paris, besuchte
dann, mit Unterbrechungen, die Malschule

H. von Habermanns in München und hielt sich
in der Zwischenzeit in Spanien, Marokko und
verschiedentlich auch in Italien auf. (Die meisten
Einfälle Wirschings, die ins Märchenland,
ins Phantastische oder ins Mittelalter einschließlich
der Renaissance weisen, dürften auf Eindrücke
aus dieser Zeit der Wanderschaft zurückzuführen
sein.) Seit 1916 ist Wirsching
Mitglied der Münchner Secession gewesen. Am

I. Dezember 1919 ist er in Dachau, wo er einen
alten Bauernhof in ein originelles Heim umgewandelt
hatte, einem Schlaganfall erlegen, der
ihn an der Druckerpresse überraschte. Zwar:
ihm selbst scheint der Tod nicht unerwartet
gekommen zu sein. Er hatte Ahnungen; auch
Träume deuteten auf ein nahes Ende. Im übrigen
hat der Tod in allen Entwicklungsperioden
der Kunst dieses Frühvollendeten eine Rolle
gespielt. Sein stärkstes graphisches Werk ist
ein moderner Totentanz. Und auch auf dem
Titelblatt zum Äskulapischen Dekameron, dessen
Illustrierung Wirschings letzte Arbeit gewesen
ist, begegnet uns der Knochenmann. Man
könnte nun leicht in Versuchung geraten, mit
dem Schicksal zu hadern, weil es dieses große
Talent im 31. Lebensjahr von seiner Arbeit abberufen
habe, und könnte sich in sentimentale
Gedanken darüber verlieren, was dieser Künstler
, dessen Bestes vermutlich erst zu erwarten
gewesen wäre, noch hätte leisten können. Aber
es ist — hier wie anderwärts — doch wohl
eine Täuschung, wenn man solches glaubt. Man
darf vielmehr im allgemeinen als gewiß annehmen
, daß ein Menschenleben in sich vollendet
ist und alle seine vorausbestimmten Zwecke erfüllt
hat, wenn ihm der Tod auch äußerlich
ein Ziel setzt. Und darum wird es wohl so sein,
daß Wirsching das Werk, das ihm vom Schicksal
zu wirken aufgetragen war, bis zum letzten
Feder- und Pinselstrich geleistet und vollendet
hat und daß ein ersprießliches Darüberhinaus
nicht im Bereich seiner Möglichkeiten gelegen
gewesen wäre. Wir haben also nicht die geringste
Ursache, angesichts dessen, was ist, über
eingebildete Verluste zu klagen.

Wirsching ist, auf Technisches hin gesehen,
das gewesen, was man einen Malergraphiker
nennt; d. h. er ist, wie einst Welti, Maler und
Graphiker, aber nicht mit so starkem Akzent
auf letzterem, sondern beides im Hauptberuf
gewesen. Das kann man wohl sagen. Jedenfalls
dürfte es nicht leicht, wenn nicht ganz unmöglich
sein, zu entscheiden, ob die Malerei oder
die Graphik für die Beurteilung seines Wesens
wichtiger sei und auf welchem Gebiet er sein
Bestes geleistet habe: in seinen Bildern oder
in seinen Holzschnitten. Wirsching ist eben
einer von jenen gewesen, die nichts halb oder nur

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