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ERNST BARLACH
nicht nur jene Fähigkeit bildhaften „Vorstellens",
der man auch sonst häufig begegnet, die sich
darin äußert, daß der Betreffende etwa bei geschlossenen
Augen Bilder, Dinge, Gestalten vor
sich zu sehen vermag; sie geht darüber hinaus
zum Verdichten seelisch-geistiger Realitäten zu
sichtbaren Sinnbildern und Sinngestalten, das
heißt zur Vision im reinen ursprünglichen
Sinne des Begriffes.
*
Aus der Auseinandersetzung dieser seelischen
Energien Barlachs mit seiner menschlichen
Besonderheit erwächst die Eigenart seiner Arbeiten
. Barlach ist Norddeutscher, Mecklenburger
; man spürt es in fast jedem seiner
Werke. Etwas Schweres, dem Boden und der
Erde Verbundenes, ist darin: es ist kein Zufall
, daß er immer wieder zum Holz als dem
ihm gemäßesten Material greift. Es ist, als ob
er das Organische, noch irgendwie Lebendige
dieses Materials braucht, das heimlich Beseelte,
was Holz noch nach dem Tode des Baumes
behält. (Aus einem ähnlichen Gefühl heraus
mögen die Theosophen ihren Tempel in Dornach
ebenfalls ganz aus Holz errichtet haben.)
Es gibt Arbeiten von Barlach auch in anderem
Material; jene letzte Lebendigkeit, die seine
HUNDEFÄNGER (HOLZSCHNITT)
Holzschnitzereien haben, fehlt ihnen, und zuweilen
ist es, als wollte der Stil in ihnen sich
verselbständigen und in Stilisierung hinübergleiten
, weil er nicht mehr den Rückhalt am
Leben des Stoffes und an der nahen handwerklichen
Beziehung zu ihm hat. Das dumpfe
Lebensgefühl des Menschen scheint die Überwindung
des Widerstandes einst lebender Materie
zu brauchen, um zum reinen Ausdruck des im
Schauen Erlebten kommen zu können. Es ist
etwas sehr Deutsches in diesem Zug; wenn Gestalten
, wie die zusammengebeugte Frau auf
dem Relief vom Hunger Erinnerungen an alte
deutsche Relieffiguren, an Nürnberger Meister
und zugleich an Bilder des Bauern - Breughel
heraufbeschwört, so liegt darin mehr als ein
Herausheben nur formaler Ähnlichkeiten. Etwas
von der Erdgebundenheit des deutschen Geistes,
die seine Kraft durch Jahrhunderte war, lebt
in diesem späten Erben fort. Sie bewahrt ihn
davor, die reine Vision allein Herr über sein
Schaffen werden zu lassen, hält ihn immer wieder
in nächster Nähe der Natur — und hat ihn
so von sich aus jenen Ausgleich zwischen Ausdruckswillen
und Naturalismus längst vollziehen
lassen, den zu finden wohl die historische Aufgabe
der jetzt den Expressionismus ablösenden
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