http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_43_1921/0181
Ihr Vorbild wirkte nicht nachhaltig: als Hildebrand
1867 zum erstenmal nach Italien kam
und von dem goldenen Überfluß trank, was die
Wimper hielt, da erkannte er mit dem unfehlbaren
Instinkt des temperamentvollen, von allen
Rücksichten und Hemmungen freien Zwanzigjährigen
, daß nun erst das Lernen zu beginnen
habe. Im Grunde ist ausschließlich die Renaissanceplastik
Italiens die Lehrmeisterin Hildebrands
. Eines Führers, diese Pracht nicht nur taumelnd
zu genießen, sondern sie auch zu erkennen
und in sein eigenes Schaffen hineinzuleiten, bedurfte
er freilich, und der ward ihm in Hans von
Marees, mit dem ihn, von einer rasch vorübergehenden
Trübung abgesehen, eine wundervolle
, an fruchtbaren Auswirkungen reiche
Männerfreundschaft bis zu Marees' Tod verband.
In Florenz schuf der junge Hildebrand mit
einer wilden, bacchantischen Freude an der
Arbeit und aus einer seligen, inneren Trunkenheit
heraus, die an das Schaffen des jungen
Goethe gemahnt. Marees, der sich freute, in
Hildebrand den hochgemuten Jüngling von
hohen Gaben gefunden zu haben, pflanzte in
die junge Brust seine umwälzenden Kunstanschauungen
und zog Hildebrand zur Mitarbeit
an den Freskomalereien in der Zoologischen
Station in Neapel heran. Das war ein glückliches
und an Erkenntnissen ertragreiches Zusammenarbeiten
, ein reger Austausch von Gedanken
, der damals schon in Hildebrand den
Entschluß gereift haben mag, seine Anschauungen
und Meinungen schriftlich niederzulegen
und sich theoretisch mit der Kunst auseinanderzusetzen
, wie er es später in seiner Schrift
„Das Problem der Form in der bildenden Kunst"
zur Tat werden ließ.
Durch dieses nicht eben leichte Buch geht
der Weg zum vollen Verständnis der Kunst Hildebrands
. Es ist eine Anleitung zum Sehen. Hildebrand
unterscheidet darin zwei Arten: das Flächensehen
, das dem Fernbild entspricht, und
das Abtasten eines Gegenstandes mit den Augen,
das körperliche Sehen. Für die Plastik fordert
Hildebrand, daß sie vom Flächenbild ausgehe,
d. h. schon durch den Umriß keinen Zweifel
an den räumlichen Verhältnissen entstehen
lasse. Hildebrand verlangt für das plastische
Werk eine Front, eine Hauptansicht, aus der
sich ein reines Flächenbild, eine ausgesprochene
Reliefwirkung, ergibt. Dies ist ein vielleicht unbewußtes
Anknüpfen an die Antike und ein nochmaliges
Durchlaufen des historischen Werdeganges
der Plastik bis zu dem Punkte, wo ihr
Abstieg in Unklarheit, in Beiwerk, in schlimme
Allegoriehaftigkeit einsetzt. Nach diesen theoretischen
Ergebnissen regelte Hildebrand auch
seine praktische Arbeit: er zeichnete sozusagen
das Bild auf die Vorderfläche des Blockes, so
daß mehrere Hauptpunkte nahe an dieser liegen,
und von hier aus geht es schichtenweise in
die Tiefe; die Rückwand des Reliefs versinkt
immer mehr, bis sich die Gestalt völlig rundet.
Indessen ist über solchen Erkenntnissen und
Erwägungen Hildebrands Kunst keine „Rezeptkunst
" geworden; glaubte man dies, so ließe
man Hildebrands prachtvoll aufspringendes Temperament
aus der Rechnung. Er gestaltete, er
erklügelte nichts. Seine Form ist fest und schlicht,
Absicht und Ausführung, Einfall und Form
decken sich fast in allen Fällen seines unendlich
reichen, hier in den Einzelheiten natürlich
nicht zu überschauenden Werkes, das sich
nicht auf die Plastik beschränkte, sondern auch
Malerei und Architektur einbezog: zu seinen
gelungensten architektonischen Schöpfungen gehört
das Schlößchen Riedberg bei Partenkirchen
und der Hubertustempel auf der Terrasse
vor dem Münchener Nationalmuseum.
Eines sei noch hervorgehoben: Hildebrands
ungemein fein entwickelte Gabe der Einfühlung.
Wie er sich in die Stimmung fand, so auch in die
Psyche der von ihm porträtierten Persönlichkeiten
, unter denen sich die führenden Geister
des zeitgenössischen Deutschland befinden, und
in die charakteristische Eigenart der Städte,
die er mit öffentlichen Kunstwerken zierte: am
deutlichsten spricht dafür sein Wittelsbacherbrunnen
in München, in dem sich die ganze
Stadtseele enthüllt.
Alles rundete sich dem Meister zum Ganzen;
wie sein Schaffen, so war auch sein Leben ein
Kunstwerk, und abberufen wurde er nicht mitten
aus heißem Schaffen heraus, sondern vom Feierabendglück
des Mannes hinweg, der sein Werk
vollendet sieht, aufgebaut und zum Himmel
getürmt „aere perennius".
Wolf
*
*
149
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_43_1921/0181