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MAX LIEBERMANN
IN DEN DÜNEN (1896)
Sie konnte nicht vollkommen geschlossen sein
wie eine Zeichnung von Ingres; auch nicht
so geschlossen wie ein Blatt von Menzel. War
sie ein ausgesprengtes Stück der Welt, so mußte
gleichsam eine wunde Seite bleiben, deren
wehende Nerven in Luft und Licht einer Ordnung
des Unendlichen zustreben.
So ist der Sinn der Anekdote bei Liebermann:
beim erzählenden wie beim malenden, beim
zeichnenden. Sagt er etwas (und er sagt nur
sehr gute Dinge), so ist der Witz nicht Stückgut
, das irgendwo, von nirgendher, amüsant
aufprallt. Er macht nicht den Witz um des
Witzes willen. Die Anekdote des Erzählers hat
einen Hintergrund. Die Anekdote des Malers und
des Graphikers — pars pro toto. Er hat nie
Anekdoten im Sinn der Genreleute gemalt,
radiert. Seine Anekdotik ist das rassige Greifen
nach den Abschnitten des Daseins, die von den
Perspektiven des zeitgenössischen Lebens gegönnt
werden — und an denen er, der Malerradierer
, nun das Ganze zu messen hat. Anekdote
? Fragment? Wer sah, wie er wohnt, der
weiß den Sinn dieser Worte. Der Rahmen
seines Lebens hat eine klassizistische Ordnung.
Sein Blut ist alt, wohlgezogen, von historischer
Unendlichkeit. Die Weisheit, die aus der Anekdote
kommt, aus dem Paradigma, ist nicht die
schlechteste — und nicht die schlechteste Kunst
kommt aus dem Segment, aus der Tangente.
Hier ist das Geheimnis der Passion Liebermanns
für Degas. Anekdote ist das große Bildermalen
um 1880, die komponierte Historie. Das Verhältnis
verkehrt sich: die eigentliche, vielmehr
die schlechte Anekdote liegt dort, bei den Akademikern
mit den enormen Leinwanden. Liebermann
? Er hat im Radieren wohl etwas von
der Meisterschaft des Rembrandt überkommen.
Er hätte auch Lust gehabt, in den Spuren des
Rembrandt und des Israels rechte Bilder zu
malen. Aber die Zeit hatte diese Bilder nicht
mehr — gab sie nicht her. Das Abrupte der Anschauung
, vollends der Zeichnung Liebermanns
ist Eingeständnis der Tatsache, daß alle Spannung
und alles Organische um die Wende des
Jahrhunderts aus dem Innersten in die peripherischen
Fragmente des Daseins gefahren waren
und nur dort wiedergefunden werden konnten.
Die Kunst für Alle XXXVI.
201
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