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Land und Welt, Liebe, Leben, Tod, Jenseits.
In den zehn radierten „Zeichnungen eines Verliebten
" schon zeigt sich des Künstlers zitternde
Sehnsucht - - im „Simson" aber ward der Einsame
der Gewaltige, der schließlich alles opfert,
um sich zu behaupten. Aber gerade der Überlegenste
leidet am tiefsten.
Die Einheit der Zyklen Schinnerers findet
in der Einheit der Gestalten, in der Formung
jedes einzelnen Blattes ihren rein künstlerischen
Ausklang. Man denke dagegen an Max Klinger.
— Schinnerer taucht mit ein paar Zeilen der
Bibel oder mit einem Traum mitten in des
Lebens Ziel und Sinn, sein Glück und Leid.
— Und wenn ich mich noch so scheue, an
jenen unvergleichlichen Florentiner zu erinnern
(Schinnerer würde mir dies verbieten), so ist
doch ein gleicher Ton von Lebensauffassung
in den Gestalten jenes großen Italieners und
denen des schlichten aber ebenso wahrhaftigen
deutschen Gewissenshorchers Adolf Schinnerer.
„Dem innern Bild entspricht das äußere Schaun"
und „Hoffnungssehnen beseelt zur Kunst mich,
zu der wunderbaren".
Es fällt mir selbstverständlich hiermit nicht
ein, den feinen Radierer Schinnerer mit Michelangelo
als kommensurable Größen zu vergleichen;
aber wie der Florentiner den echten Gestaltenformer
in aller Zeiten Kunst repräsentiert, wie
er aus Worten und Themen unsterblichen Gehalt
schafft, wie er Worte, wie er das Leben der
Menschen selbst metaphysiert und nicht zum
wenigsten, wie doch des edlen Menschen ewiges
Leid Form voll glücklichster Sprache wird, das
gibt uns auch das Schauen in Schinnerers Art
und Werk.
Die zehn Blätter vom „Teich Bethesda" (1912)
gaben dem Künstler Gelegenheit, beides in vielfachen
Gestalten zu formen, die Sehnsucht der
Unglücklichen nach Befreiung vom Übel — die
Freude des Künstlers, Akte zu schaffen von
überzeugender Körperlichkeit und Sprache.
Beides kann kaum anders als gleichzeitig gesehen
werden, es sei denn das Blatt mit den
vielen ruhenden Gestalten auf dem Dache und
in den Hallen. Hier nur sind Akte gezeichnet
ohne tiefere seelische Belebtheit — die andern
Blätter aber, zumal das der sehnend Aufschauenden
, das mit dem niederfahrenden Engel, das
ergreifende der „Heimkehr" sind gleichstarke
Zeugen plastischer Schaffenskraft und wunderbarer
Beseelung. Wer wirklich Schinnerers Bedeutung
in all dem Ringen um deutsche Formgewinnung
erkennen will, muß Zeichnungen
Marees' neben Schinnerers „Teich von Bethesda"
betrachten. Marees blieb, mit wenig gelungenen
Ausnahmen, unfähig, die Gestalten wirklich zu
beleben. So glücklich frei uns Schinnerer neben
diesem Sucher vorkommt, so wird uns nach
seinen Schöpfungen gewiß, daß das Werk Marees'
niemals in der nordischen künstlerischen Gefühlswelt
je wirklich heimisch wird. — Ganz
anders, viel näher stehen wieder Thoma und
Schinnerer, nur haben die Gestalten Schinnerers
viel bewußtere Gestaltung, sie sind mehr gewachsen
, leben noch mehr, und ganz frei sind
sie immer von schöner Pose, sind nicht gestellt.
Als Aktzeichner steht Schinnerer weit über
Thoma, um so sicherer, als auch die Gefühlswelt
stärker in seinen Akten Form wird. Vielleicht
bedeutet das aber nur einen Weg von einer
deutschen Generation zur anderen und eine Bereicherung
unserer deutschen Kunst nicht nur
durch eine Persönlichkeit.
Einen Höhepunkt solch doppelter Formgestaltung
bedeuten uns Schinnerers Lithographien
zu Strindbergs bitterem Drama „Der Vater".
Das sind keine Illustrationen, sind freie starke
Übertragungen des geistigen Gehalts und der
Stimmung in das Reich beseelter Formen. Es
sind Sinnbilder reifster Vereinfachung. Ob
Schinnerer nicht der Illustrator Strindbergs ist?
Was er hier dem Dichter gibt, gibt übrigens
oft genug der Künstler selbst seinen Bildern.
Er faßt gern in einer schier übermenschlichen
Gestalt den Gehalt der Erzählung. Er zwingt
den Geist in reinere menschliche Form.
Gewiß ist auch Schinnerers Gestaltenwelt
formal und seelisch begrenzt, sie ist alles andere
als kosmopolitisch, aber waren das Schongauer,
Dürer, Lukas van Leyden, Pieter Brueghel d.Ä.,
Rembrandt, Ludwig Richter? Es wird die Zeit
kommen, wo nicht nur wenige, wo viele fühlen
werden, wie ergreifend die Schinnererschen
Hände sich ausstrecken, wie gefühlt das Schreiten
seiner Gestalten, wie sie überhaupt fühlen, leiden,
handeln, ohne Pathos zu haben und ohne zu
agieren. Man sehe nicht über die Mängel
Schinnerers weg, das Wortkarge oft seiner
Sprache, das Fragmentarische der Erzählung,
denn wir werden ihn um so mehr lieben, je mehr
wir diese sehen als Träger seiner unbestechlichen
Wahrheitsliebe, seiner deutlichen, deutschen
Gestaltung. Es widerstrebt mir, Blätter
wie das mit den Akten an Meer und Felsen,
eben nur als „Blatt mit Akten" zu bezeichnen
— das ginge viel eher bei Ludwig von Hoffmann
an —, denn mit den Aktdarstellungen ist das
„Bild", ist der Gehalt nicht erschöpft. Wer
die Gestalten Schinnerers mit denen Max Liebermanns
oder Marees' oder Slevogts vergleicht,
wird das verstehen. Für jenen sind Figuren
nichts als Bewegungsmotive, Mittel, Schatten
und Licht zu teilen, aber die Frage nach inneren
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