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In den scheinbar fragmentarischen Werken
der „Großen Familie" und der „Eltern" schafft
Bühler einen neuen Typ des Familienbildes,
dem Inhalt, wie der Form nach. Inhaltlich
wird die „gegenwärtige Familie" in den Zusammenhang
mit ihrem Ursprung und ihrem
Ziel gebracht. Der Künstler mit seiner Frau
und seinen Kindern wächst empor aus den
beiderseitigen Voreltern. Aber diese drei Generationen
sind nur ein zeitlich hervortretendes
Glied in der großen Menschheitsfolge.
Die persönliche Welle tritt im großen Strom
als Bestimmtes aus dem Fließenden und Unbestimmbaren
heraus. Daß natürlich noch
einige intime, inhaltliche Beziehungen durch
die Gruppierung und die Ausführung erstrebt
und gestaltet sind, ergibt sich von selbst aus
der ganzen Anlage des Bildes. Die Form ist
also auch durch den Inhalt bedingt und geht
aus ihm hervor: So, daß der Künstler und
seine ältesten Kinder allein in ganzer Figur
sichtbar gegeben sind und gewissermaßen für
die Frau und Mutter einen Schutzwall bilden,
daß die Voreltern von Mannes und von der
Frau Seite als Stufen der Hauptgruppe angesehen
werden können usf. Dieses „Familienbild
" steht in inhaltlicher und formaler Beziehung
als ein Unikum im Kunstschaffen der
Zeiten. Nur ein Erzdeutscher konnte eine
solch gotische Form für eine innerst erlebte
Familiendarstellung finden.
Auch das Fragment „Fegfeuer" aus einem
mehrteilig gedachten Zyklus würde die kosmisch
transzendenten Beziehungen von Hölle, Fegfeuer
und Paradiesesgarten im diesseitigen Leben
deutlich haben erkennen lassen, wenn die Kriegsverhältnisse
den Künstler nicht auf andere Felder
der Tätigkeit gerufen hätten. Vielleicht spinnt
sich der Gedanke einmal graphisch aus.
Im Landschaftlichen, von dem hier nur eine
Probe aus früherer Schaffensperiode gebracht
wird, geht Bühler neuerdings weniger auf Stimmung
als auf Raumausdruck aus. Das Weite
und Erhebende der Atmosphäre, die durch den
großen Raum flutet, macht die Landschaft Bühlers
zu einer Art heroischen Szenariums. Wir sehen
dann auch in den Schlußblättern des „Nachtigallenliedes
", daß er damit auf die Erfassung
des Alls im Raum abzielt. Hervorgegangen
aus einer Art Traumleben, das mit Dichten
und Verdichten von Vorstellungen nächst verwandt
ist, reifen die Gestaltungen organisch
vollkommen zur höchsten sinnlichen und geistigen
Klarheit heran. Sie kristallisieren aus
dem irisierenden Flimmerleben zur greifbaren
Körperlichkeit. Ohne daß ihnen das Sinnlich
-Schöne der Farbigkeit und Raumgestaltung
mangelt, ist doch die Zeugung aus dem
Geistig-Seelischen ihr Wesentliches. Die Ineins-
bildung des Sinnlich-Schönfarbigen mit der
formklaren Gestalt und ihre Durchdringung
mit schöpferischem Geist gibt der Bühlerschen
Kunst den Charakter. Sie bleibt damit der
deutschen Ahnenschaft getreu.
In der Griffelkunst hat Bühler ebenfalls seinen
neuen Ton. Nirgends mehr wie hier tritt der
musikalisch bedingte und gerichtete Charakter
seiner Kunst in die Erscheinung. Hier mit der
spielend gehandhabten Nadel bringt er die Welt
seines Fühlens, stärker und reichbewegter als
die seines Denkens, in bewegte Rhythmen und
in mannigfacher Melodie und in wechselnder
Helligkeit zum Ausdruck. Im „Nachtigallenlied
" erklingt das Hohe Lied der menschlichen
Sehnsucht und ihrer Erfüllung. Auch hier
wieder die Einbeziehung des Menschenlebens
in das ganze Naturgeschehen als Melodie zu
den brausenden Akkorden von Werden, Sein
und Vergehen. Im „Nachtigallenlied" vorzugsweise
hat der „gestaltende Dichter" das Wort.
Er hält in köstlicher Phiole die Keime geborgen
, die sich aus dem Chaos des Diesseitigen
zu kristallischer Ordnung gestalten sollen. Das
Diesseits umgibt den Dichter in allen Lebensformen
und trägt ihm seinen Samen zu, aus
dem die Ernte reift. Sehnsucht nach der Einheit
und Harmonie mit der Natur ist das Grundmotiv
für den Zyklus. Der Zwiespalt, der sich
in der Verschiedenheit der Geschlechter am
wehesten offenbart, sucht seinen Ausgleich und
Frieden in der Liebesvereinigung und ihrer
Frucht. In der Weltmusik, mit der das von
den Schemen des Lebens überflogene Meer
gegen die umbrandete Küste tönt, klingt der
Rhythmus über die Freude der Vereinigung.
Aus flimmerndem, flammendem Glutsturm der
Leidenschaften taucht das vereinigte Paar in
die ewig große Natur ein und unter. Es ist
ein seliges Vergehen, über das die Erde ihre
Blumen streut und der Himmel seine Zelte
spannt. So daß im Finale-Choral der Dichter
und Künstler gleichermaßen ergriffen und er-
hobeninein apokalyptisches Land schaut, in dem
alleirdischen Leidenschaften ausgewittert haben,
und über dessen Unendlichkeit sich die Himmel
öffnen. Dieses große graphische Werk wird
durch einen neuen, eben entstehenden Zyklus
„Die Schöpfung" erweitert werden. In ihm
werden alle Elemente der Welt, die Natur
und die Geisterwelt, Erde und Himmel, Menschen
, Engel und Dämonen ihre Verkörperung
erfahren — wiederum eine Dichtung in bildnerischer
Formensprache aus religiös - seelischen
Urgründen. Es ist Verdichtung eines
kosmischen Alleinheitsgefühls zu schöner Schau-
barkeit, Kunst, die noch mehr als nur den
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