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AD. HENGELER
GROTESKE
DER MÜNCHNER GLASPALAST 1921
Das alte Lied! Auch in diesem Jahre ereignet
sich rein garnichts in der vereinigten
Ausstellung von Secession, Künstlergenossenschaft
und den angehängten kleineren Gruppen,
welche alle das Dach des alten Glaspalastes
mehr oder weniger versöhnend zu einem Ganzen
zusammenfaßt. Das also wäre die Münchner
Kunst! Ich kann und will es nicht glauben.
Nicht nur, daß viele der Besten fehlen, auch
jene, die da sind, scheinen mir zumeist nicht
mit ihren bedeutendsten und merkwürdigsten
Arbeiten vertreten. Es herrscht auch nicht die
richtige Proportionalität der Gruppen untereinander
in dem Sinne, daß den Leistungsfähigsten
der breiteste Raum zustünde. Wirtschaftliche
Momente schlagen vor. Rücksichten aller-
wärts — und über allem das Gefühl: so kann
es doch auf die Dauer nicht weitergehen.
An die Möglichkeit einer schnell durchzuführenden
„Reform" unserer Ausstellungen
glaube ich nicht. Heute nicht mehr. Die einzig
mögliche „Reform" bestände darin, daß man
einmal eine Pause, sagen wir von fünf Jahren,
eintreten ließe, damit wieder Kunst um ihrer
selbst, nicht um der Ausstellungen willen
entstehen könnte: Kunstschöpfungen ohne
Nebenansichten wären ganz gewiß ausstellungswürdiger
als alle sogenannte „Ausstellungskunst
". Die Erneuerung auch dieser Erscheinungsform
des Kunstbetriebs erwarte ich von
dem allgemeinen Wiederaufbau unseres Kulturlebens
, der zugleich ein fürchterlicher Reinigungsprozeß
sein muß. Wenn wir nur so
da und dort ein Endchen sauber putzen, blank
polieren und es eine Reform nennen, kommen
wir niemals vorwärts. „Quod medicamenta non
sanant, ferrum sanat. Quod ferrum non sanat,
ignis sanat." So steht, aus Hippokrates zitiert,
vor Schillers „Räubern". Heute sind wir so
weit. Medizin und Schwert fruchten nichts mehr.
Die Flamme tut uns not. In der Kunst und
überall. Es muß ganz, ganz reiner Tisch gemacht
werden. Und dann wollen wir schön
brav bescheiden von vorne anfangen.
Indessen bleibt es bei der unerquicklichen Tatsache
, daß jahraus, jahrein eine Glaspalast-Ausstellung
aussieht wie die andere, daß jede unergiebig
ist für die Kunst. Man darf es und muß
es einmal aussprechen: es ginge für das deutsche
Kunstleben nicht das Geringste verloren,
Die Kunst für Alle XXXVI.
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