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ED. BEYRER TORSO EINER TÄNZERIN
einmal — im Zusammenhang mit dem großen
Reinigungsprozeß und Wiederaufbau des Gesamtkomplexes
des deutschen Kulturlebens —
unsere Kunstausstellungen an Haupt und Gliedern
reformieren, dann wollen wir nicht in
falscher Vaterlandsliebe, die man schlimme
Deutschtümelei nennen müßte, uns vor dem
Auslande verschließen, sondern wir wollen alles
sehen und kennen lernen, was es besser kann,
und auch was es anders, wenn auch nicht besser,
macht als wir. Ein Gradmesser unserer eigenen
Leistung ist unerläßlich. Daß er uns fehlt,
ist mit einer der Gründe, daß unsere Kunstausstellungen
an Qualität und Interesse verlieren
. Ein anderer Gradmesser aber ist der
Rückblick in bessere, klarere Zeiten eigener
Kunstübung, das Anknüpfen an die Tradition,
ist die vielverschmähte Retrospektivität. Ist es
nicht erstaunlich und gibt es nicht zu denken,
daß die nachhaltigeren Wirkungen, die ein
Rundgang, viele Rundgänge, durch die diesjährige
Glaspalast-Ausstellung auslösen, von
Kollektiv-Ausstellungen Verstorbener, von Bildern
, die vor einer Reihe von Jahrzehnten
entstanden, kommen ? Frühwerke Defreggers,
selbst einige der heute nur zu gern geringschätzig
behandelten Sittenbilder, wie sie in der
Kollektion des achtzigjährigen Mathias Schmid
stehen, einige der intimen Landschaften von
Hofelich — gehört das nicht zum Stärksten,
das man mitnimmt ?
Trotzdem — wie gesagt — die Glaspalast-
Ausstellung ist unergiebig als Ganzes. Damit
will nichts gegen die einzelnen Aussteller und
ihre Leistungen gesagt sein. Es handelt sich
nicht um Persönlichkeiten, sondern um das
Prinzip. Es handelt sich nicht um dieses oder
jenes Bild, sondern um das systemlose, innerlich
zusammenhanglose, kulturlose Nebeneinander
von Bildern, Plastiken, graphischen Weiken,
die nichts mitsammen zu tun haben, die unter
sich ohne Beziehung sind, in ihrer Aneinanderreihung
uns nicht reicher und nicht glücklicher
machen. Die Richtungslosigkeit, die verzweifelte
Isoliertheit aller hier gezeigten Werke und
jedes einzelnen, die mangelnde soziale Wirkung
des heutigen Kunstschaffens — das macht einen
so verzagt und traurig.
Nach dem allen, darf man nicht erwarten,
daß ich aufzähle, was ich im diesjährigen Glaspalast
schön und was ich häßlich finde. Die
Abbildungen geben einen gewissen Fingerzeig,
was eine eingehendere Betrachtung beanspruchen
kann. Darüber hinaus mag ich mich in
Einzelheiten und in die Aufzählung von vielen
Namen nicht einlassen. Nur einige allgemeine
Bemerkungen, die mir für gewisse — allerdings
kaum wahrnehmbare, mehr zu fühlenden als zu
messende — Entwicklungsmomente in der
Münchner Kunst, soweit sie in der Ausstellung
schaubar wird, bezeichnend erscheinen, seien
in Kürze festgehalten.
Ein immer stärkeres Vordringen der Graphik
macht sich bemerkbar; Künstler, die früher
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