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DEKORATIVE UND ERLEBNISKUNST
Die übliche Einteilung in hohe Kunst und
Kunstgewerbe kann nur cum grano salis
gelten: man muß sich darüber klar sein, daß
die unterscheidende Linie eine andere ist als
die nur technische, und daß sie mitten durch
alle Kunstarten hindurchgeht. Wenn für diese
Unterscheidung der Ausdruck „dekorativ ' eingesetzt
wird, so bedeutet das die Feststellung
des Zweckbegriffes als des Trennenden: zwecklos
, schöpferisch erlebt können Werke der Malerei
wie des Handwerklichen und der Architektur
, zweckbestimmt und also dekorativ ebenso
kunstgewerbliche wie frei geschaffene Kunstwerke
sein. Maßgebend ist hier der Standpunkt
des Schaffenden, nicht des Objektes oder des
Betrachtenden. Überhaupt sollte bei allen grundsätzlichen
Betrachtungen über Kunst das psychologische
Moment der geistigen Herkunft viel
mehr beachtet werden als das objektive Merkmal
der Erscheinung: weil die Erscheinung,
metaphysisch angesehen, auf Sinnestäuschung
ruht und die Wahrheit nur in der Aussage der
Seele gesucht werden kann.
Nun steckt Handwerklich-Technisches ja in
jedem Kunstwerk und ebenso Schöpferisches:
Durchdringung beider erzeugt erst das Werk.
Nicht das Vorwiegen eines dieser Elemente bestimmt
seinen Charakter; vielmehr steigert meist
die Stärke des einen automatisch die des andern
, und es ist der subjektiven Willkür anheimgestellt
, mehr das Materielle oder das Geistige
herauszulesen. Nein, das Entscheidende ist die
Gesinnung des Schaffenden: löst sie ihr Werk
ganz aus dem Zusammenhang der Kausalität
und der Zwecke heraus, stellt sie es als ein
Produkt wahren Erlebens ohne Beziehung sozusagen
in den leeren Raum, aus dem unerbittlichen
Zwang inneren Müssens, so sprechen wir
von Erlebniskunst. Dekorativ aber ist die Kunst,
deren Entstehung schon auf eine Absicht, auf
direkte oder indirekte Beziehung zur Umwelt
deutet: mag das nun ein anderes Kunstwerk
sein, ein Gebrauchszweck oder auch eine in das
Werk selbst verlegte Spannung von Relationen.
Es ist nicht leicht, aber es ist von großem
Reiz, die Grenzgebiete und Überschneidungen
dieser beiden Begriffe zu wägen; da eigentlich
alles Grenzgebiet zu sein scheint, was sich von
der offenbar visionären Erlebniskunst entfernt:
eine Schuld der üblichen Unklarheit der Definitionen
, die sich an das Äußerliche des Kunstgegenstandes
halten. Man kommt auch tatsächlich
mit jenen beiden Begriffen nicht aus, sondern
muß zwischen sie einen dritten gleichberechtigt
stellen, der Merkmale von jedem besitzt:
architektonische Kunst. Diese ist keineswegs
identisch mit Baukunst zu setzen: vielmehr kann
diese ebensowohl dekorativer wie architektonischer
Art sein. Um aus dem bloßen Gebrauchswert
zu architektonischem Rang aufzurücken,
bedarf das dekorative Kunsthandwerk, sei es
gewerblich, raumschmückend, baulicher Art, des
hohen Schwungs von Erlebnis und Vision. Wenn
man höchste Produkte handwerklicher Kultur:
Bronzen der Han-Zeit, mykenische Vasen, maurische
Fayencen oder Möbel der Barockzeit
betrachtet, so gewahrt man einen Zug hinreißender
und rein schöpferischer Phantasie in ihnen,
der sie in höhere Sphären erhebt; und doch
ist es nicht möglich, ihnen den Charakter der
Gebrauchskunst zu nehmen. Architektonisch bedeutet
dann an ihnen das Mehr an künstlerischem
Elan, und in der Baukunst das Schöpferische
, das Überflüssig-Freiströmende der Erfindung
. Man könnte also das Paradoxon wagen,
daß es unarchitektonische Baukunst gibt; was
sogar auf die überwiegende Masse des Gebauten
in den letzten 50 Jahren zutreffen würde; und
nicht etwa bloß auf die Mietskasernen. Unter
die architektonische Kunst sind vor allem auch
die Übergangserscheinungen der Malerei zu rechnen
: Fresko und Monumentalbild. Doch wäre
hier die Skala gleitend darzustellen; von erhabenster
Erlebniskunst etwa Giottos bis zur billigen
Dekoration neuerer Stilisten enthält Monumentalkunst
so ziemlich alle Nuancen, und ihre
Wertung muß sich aus dem einzelnen Werk
erschließen. Begrifflich aber gehört sie zum
Architektonischen, weil sie zum Ei leben gesteigerte
Dekorationsmalerei ist. Das Bestimmende
ist das schmückende Verhältnis zur Wand, (und
darüber gehen die meisten Wandbilder der Heutigen
nicht hinaus); aus ihr aber kann das
Geistige emporsteigen und sich mit dem Dekorativen
zu höchstem Gehalt verbinden: das
mächtigste aber, das schwerste Problem der
Malerei schlechthin, weil beide Ausstrahlungen
in stärkster Spannung verlangt werden. In der
neueren Zeit sind eigentlich nur Hodler und
Puvis den Forderungen der Monumentalkunst
gerecht geworden, und beide auch nur mit gewissen
Einschränkungen. Man muß die Bedingnisse
des Fresko sehr hoch spannen, um seinen
Begriff rein zu erhalten.
Völlig dekorativ und gar nicht mehr architektonisch
kann auch das Staffeleibild sein. Ja
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