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ARCH. F. E. SCHÜLER-STUTTGART a ARBEITERHAUS AUS DEM ZEPPELINDORF B. FRIEDRICHSHAFEN
derselben Stufe behandelt oder Grützner und
Spitzweg.
Der kunstgeschichtliche Wert der dekorativen
Kunst liegt auf einem anderen Gebiet: dem des
Stiles, des Ornaments. Erlebniskunst ordnet sich
nur verhältnismäßig dem Stilcharakter der Epoche
ein; während die Träger des stilistischen
Elements die Dekorativen sind, welche den Geschmack
einer Epoche, eines Volkes weit reiner
und treffender auszudrücken wissen als die
Schöpferischen, weil sie mehr dem Niveau der
allgemeinen Wertungen angenähert sind. Die
wahren Talente und die Genies stehen mehr
oder weniger vereinsamt über ihrer Zeit. Ein
Carstens beispielsweise drückt das Verlangen
seiner Epoche und seines Volkes durchaus nicht
so sprechend aus wie etwa der findige Arrangeur
Füger oder auch, um ein paar Grade höher,
als Schinkel: diese machten den Stil, Carstens
schuf die unvergänglichen Kunstwerke ihrer Zeit.
Schließlich kann man das Kunstwollen aller
Zeiten ja am unmittelbarsten aus der unbewußten
Wahrhaftigkeit des Ornaments ablesen, und
dies ist der unbedingte Ausdruck des Dekorativen.
Eine scharfe Grenze ist auch zu ziehen zwischen
dekorativer Gesinnung und abstrakter
Kunst. Man hört zu oft die naive Verwechslung
von Tapetenmustern und gegenstandsloser
Malerei wie etwa der von Kandinsky, Picasso
oder Muche, um hier nicht sogleich dem Beginn
zu wehren: solche Malerei ist unzweideutiges
Erlebnis und durch eine Welt getrennt
auch von den anmutigsten Spielereien der Wiener
mit Tunkpapieren oder Flachstichmustern.
Nur kann sich der gewöhnliche Sterbliche ohne
Phantasie schwer vorstellen, daß ein Künstler
abstrakte Visionen haben kann; daß unerhört
aufwühlende Gesichte in nichts als Farbenklängen
, in absoluten Raumvorstellungen ohne eine
Spur von irdischem Gegenstand bestehen können
. Gleichwohl ist es so und zwar heute in
einem immer steigenden Maße. Das beweisen
die unaufhörlich aus dem Dunkel des schaffenden
Chaos tauchenden jungen Künstler, die
ihren Eingebungen abstrakte Gestalt geben
müssen (man faßt sie, durchaus unzutreffend,
als „Kubisten" zusammen); müssen, weil ihnen
keine anderen Formen zu Gebote stehen, ihre
innere Not zu offenbaren. Wer ein echter
Künstler ist, lebt vom Zwange inneren Schauens:
nehmt ihm die Möglichkeit, es ans Licht zu bringen
, und ihr nehmt ihm seine Lebensmöglichkeit.
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