http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_44_1921/0206
o. hitzberger-berlin
geschnitzte füllung
unsagbaren Niedergang jeder Moralität und den
Bankerott des Idealismus fast auf der ganzen
Erde betrachtet. Aber über den Schrecken der
Gegenwart steht das untrügliche Prophetentum
der Kunst. Sie hat die Weltkatastrophe vorhergesagt
und sie überwindet dieses gegenwärtige
Grauen — nicht mit einem flachen und materialistischen
Optimismus, sondern mit der
Waffe des Geistes, der dem schweren Geschehen
der Wirklichkeit vorauseilt. Und weil sie so
völlig abgekehrt ist von dem
äußeren Gehaben von heute,
und noch niemals das Wesen
einer Epoche von der Kunst
trügerisch gedeutet worden
ist: darum darf man gewiß
sein, daß das innere Sein
unserer Zeit nicht Untergang
in Roheit und Materialismus
sein kann, sondern Erlösung
vom Wahn des Egoismus.
Die Kunst des sogenannten
Expressionismus läßt uns
hoffen, daß ihre Ideale von
der kommenden Generation
verwirklicht werden: Liebe
der Menschheit und Allgefühl
und Mitempfinden allen
Leidens. Diese Vertiefung
und Erweiterungdes Menschseins
ist das Erlösende und
tief Sittliche, das uns aus
Dichtung, Musik und Kunst
der Gegenwart beispielhaft
und prophetisch entgegentönt
.
Wenn vielleicht zweifelnd
gefragt wird, auf welche Namen
sich denn dieser Glaube
berufen kann, so sei nur in
der Malerei an van Gogh,
Münch, Rousseau, Chagall,
Franz Marc, Heckel, Kokoschka
, Beckmann, Meid-
ner erinnert: aus ihren und o. hitzberger
manch anderer Künstler Werken und Leben
strömt jene starke sittliche Kraft, die uns an
die Menschheit wieder glauben läßt.
Von einem solchen Standpunkt aus mag
schließlich auch ein neues und bedeutungsvolles
Licht auf die Erneuerung unserer angewandten
Kunst vor 25 Jahren gerichtet werden. Man
braucht sich nicht einmal der zahlreichen Literatur
jener Tage und ihres ethischen Ernstes
zu entsinnen, um zu fühlen, daß das Grundmotiv
der ganzen Bewegung
(wie es schon bei Ruskin
und Morris der Fall war) ein
Erwachen sittlichen Verantwortungsgefühls
war. Aber
dieses Ringen um eine neue
Form für den freiheitlichen
Geist vollzog sich nicht da,
wo es allein die notwendige
Nahrung hätte finden können
, auf dem Boden des Erlebnisses
— sondern in der
dekorativen Kunst: und hier
lag der Widerspruch, an dem
auch das reinste Wollen
scheitern mußte. Das sittliche
Pathos dieser Künstler
war zu stark für die Gelegenheit
. Möbel, Tapeten,
Einfamilienhäuser als alleinige
Träger neuer Gesinnung
sind unmöglich; und es ist
eine tragische Ironie, daß
fast alle jene Künstler von
der Malerei herkamen, um
mit dem Kunstgewerbe das
zu versuchen, an dessen Aus-
drückbarkeit in der hohen
Kunst sie verzweifelt hatten.
Es ist diese Erfahrung gerade
in ihrer Negativität ein
unwiderleglicher Beweis für
den Satz, daß nur Erlebniskunst
das Sprachrohr der
schirmgriff Zeit ist. Der Lauf der Ent-
172
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_44_1921/0206